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Befehl war nicht Befehl

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Hagener Sobibor-Prozeß 1965: Bleiben die Morde im Vernichtungslager Belzec ungesühnt?

Der Spruch des Strafsenats beim Münchner Oberlandesgericht hat unter Juristen Verwirrung gestiftet. Nachdem die 4. Strafkammer des Landgerichtes 1 ein Verfahren gegen sieben ehemalige SS-Männer des Vernichtungslagers Belzec abgelehnt hatte, mußte auf Einspruch der Staatsanwaltschaft die höhere Instanz den Fall entscheiden. Und die Richter des Strafsenats folgten dem Einstellungsbeschluß der 4. Strafkammer: Jene sieben des Mordes oder der Mordbeihilfe Verdächtige wurden gleichsam freigesprochen. Münchens Richter billigten ihnen pauschal Befehlsnotstand zu — gemäß dem Strafgesetzbuch-Paragraphen: "Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Täter durch unwiderstehliche Gewalt oder durch Drohung, welche mit einer gegenwärtigen, auf andere Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib und Leben seiner selbst oder eines Angehörigen verbunden war, zu der Handlung genötigt worden ist."

Nun sitzen freilich von jenen sieben SS-Männern, die an der Ermordung von 600 000 Juden in Belzec beteiligt waren, fünf im Hagener Sobibor-Prozeß auf der Anklagebank. Sobibor war neben Belzec und Treblinka das dritte Vernichtungslager der "Aktion Reinhard". Werden diese fünf Angeklagten nun für ihre Mordtaten verurteilt, so kommt es zu einer seltsamen Situation: Die gleichen Täter, die in Hagen bestraft werden, gehen in München straflos aus, obwohl sie sich in Sobibor wie in Belzec des gleichen Verbrechens schuldig machten. Dies wäre dann eines der krassesten Beispiele von Rechtsunsicherheit bei der Ahndung von NS-Massenmorden, das in der letzten Zeit bekannt wurde.

Die Münchner Entscheidung, gegen die das "Comite International des Camps" beim bayerischen Justizminister Einspruch erhob, mutet in der Tat höchst merkwürdig an. Im Fall der Hagener Angeklagten hatte das Oberlandesgericht in Hamm ausdrücklich jede Notstands-Ausrede zurückgewiesen. Sie hätten nicht unter einem "außergewöhnlichen seelischen Druck" gestanden. Auch das Bundesgericht habe festgestellt, daß gerade der überzeugte Nationalsozialist, der die Rechtswidrigkeit eines Befehls erkannt, diesen aber dennoch für bindend gehalten habe, keinen Notstand für sich geltend machen könne.

Über diesen Karlsruher Spruch setzte sich der Münchner Strafsenat hinweg. Er folgte dem Gutachten des Historikers Seraphim, der den Belzec-Beschuldigten einen Befehlsnotstand zusprach. Sie hatten behauptet, unter dem Druck des brutalen Lagerkommandanten Christian Wirth, einem SS- Sturmbannführer und Polizeimajor, gestanden zu haben, der sie angeblich mit dem Tode bedrohte. Wirth, der gegen Kriegsende gefallen ist, war auch der Kommandant des Mordlagers Sobibor. Das Hagener Schwurgericht aber verhandelt gegen seine Handlanger.

Dafür, daß vom Oberlandesgericht in München eine Fehlentscheidung getroffen wurde,, sprechen indessen noch andere Gründe: Im Januar dieses Jahres wurde vor einem Münchner Gericht gegen den ehemaligen SS-Oberscharführer Josef Oberhauser verhandelt. Er war angeklagt, in Beizec am Tod von mindestens 360 000 Juden mitschuldig geworden zu sein. Oberhauser wurde zu 47 Jahren Zuchthaus verurteilt. Einen Putativ- Notstand lehnte das Gericht ab: "Der bloße Hinweis auf eine Gefahrenlage — wenn Oberhauser die Durchführung des Mordbefehls verweigert hätte — ist noch keine ausreichende Entschuldigung. Es konnte verlangt werden, daß der Angeklagte eindeutig überprüfte, ob die Ausführung des Befehls die einzige Möglichkeit war, der Gefahr für die eigene Person zu entgehen. Dies hat er nicht getan." Im Fall der sieben Beschuldigten aus demselben Belzec-Komplex aber stellte das Oberlandesgericht pauschal fest, jeder Untergebene Wirths hätte im Notstand gehandelt.

Wie jener "Druck" aussah, dem Wirths Mordgehilfen angeblich ausgesetzt waren, wurde in dem Oberhauser-Verfahren an dem Fall des in Hagen angeklagten, in München außer Verfolgung gesetzten Robert Jührs deutlich. Er sagte aus: "Ich war meistens mit der Vergasung beschäftigt. Es ist möglich, daß innerhalb eines halben Jahres bei uns 300 000 Juden getötet wurden." Für seine Teilnahme an diesen Vergasungen erhielt Jührs wie auch seine Kameraden täglich 18 Mark Sonderzulage und eine Monatsration von zwei Liter Rum.

Ein anderer Hagener Angeklagter, Karl Werner Dubois, dem das Münchner Oberlandesgericht von vornherein Befehlsnotstand zubilligte, bestätigte, daß er in Belzec unter keiner Todesdrohung gestanden habe. Ein Befehl sei ihm, der von Hitler persönlich vereidigt worden sei, Gesetz gewesen. Es ist obendrein nachgewiesen, daß die in Hagen angeklagten, in München entlassenen Belzec-Komplizen vorher bei den Euthanasie-Mordaktionen mitgewirkt hatten. Sich daran zu beteiligen, bestand damals jedoch kein Zwang. Läßt sich ohne eine genaue Verhandlung annehmen, daß dieselben Täter in dem polnischen Vernichtungslager dem Befehl "bei Gefahr für Leib und Leben" gehorchen und Tausende in die Gaskammern jagen mußten?

Andere Historiker als der Göttinger Geschichtsprofessor Seraphim haben als Sachverständige in NS-Mordprozessen nachgewiesen, daß auch für die Tötungskommandos der SS und die KZ-Wachmannschaften nicht jeder Befehl ein Befehl war. Für sie galt eine freiwillige Treuepflicht; anders als die Beamten und Soldaten handelten sie aus einem ideologischen Konsensus heraus. Sie mordeten aus Gesinnung.

Selbst Himmler erklärte einmal in einer Rede, wer sich an den Massenmorden beteilige, folge nicht einer staatsbürgerlichen Loyalität oder gesetzlichen Verpflichtung; es handele sich vielmehr um ein Postenstehen vor der Weltanschauung, um Taten eines Gehorsams, der bedingungslos aus höchster Freiwilligkeit kommt. Gleichzeitig sichert er jenen, die Juden "ohne Befehl und Befugnis" erschossen, Straffreiheit zu. Himmler bestätigte auch, daß es sich bei den Durchführungsanweisungen zur "Endlösung der Judenfrage" keineswegs um eine normale Befehlsgebung handelte: "Dazu hätte ein Korps, das nur seinen Beamteneid geleistet hat, nicht die Kraft. Diese Maßnahmen konnten nur getragen und durchgeführt werden von einer in sich bis zum äußersten gefestigten Organisation, von fanatischen und zutiefst überzeugten Nationalsozialisten." Und bereits 1940 gab Hitlers Generalgouverneur Hans Frank bekannt, daß man bei den Angehörigen der Exekutionskommandos auf ihre "physische Situation" Rücksicht nehmen werde.

Bis heute ist kein einziger Fall bekannt geworden, daß ein SS-Mann hingerichtet oder in ein Konzentrationslager eingewiesen wurde, nur weil er einen Befehl verweigerte, Juden umzubringen. Im Höchstfall wurde er degradiert oder zu einer Bewährungseinheit an die Front geschickt. Zudem war noch bis Mitte 1942 der Eintritt in die SS freiwillig, selbst im Kriege war es möglich, sich in eine andere Dienststelle versetzen zu lassen. Auch hatte in der SS kein Vorgesetzter das Recht, einen Untergebenen eigenmächtig niederzuschießen, es sei denn bei Auflösung der Disziplin; dieser Fall aber war durch den Führerbefehl Nr. 7 vom 24. Februar 1945 genau umschrieben worden.

Noch in allen Verfahren gegen NS-Massenmörder hat sich die Behauptung der Angeklagten, für sie sei ein Befehl ein Befehl gewesen, als plumpe Ausrede und billige Entschuldigung herausgestellt. Auch die Richter vom Strafsenat des Münchner Oberlandesgerichtes hätten es dem zuständigen Schwurgericht überlassen müssen, in einer Hauptverhandlung zu prüfen, ob jene sieben Beschuldigten aus dem Vernichtungslager Belzec zu Fug und Recht von einem Putativ-Notstand sprechen dürfen. Nun aber können sie generell diesen Schutz für sich in Anspruch nehmen. Und es wird in den noch 800 NS-Verfahren, die vorbereitet werden, kaum einen Verteidiger geben, der zur Entlastung seines Mandanten nicht jene unverständliche Entscheidung ins Feld führen wird.

Im März 1965 kam der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland auf der Betheler Synode in sener Erklärung über die NS-Verbrecherprozesse zu dem Schluß: "Unabdingbar aber muß an die persönlichen Verantwortlichkeit jeder zurechnungsfähigen Person, zumal an der erhöhten Verantwortlichkeit jedes mit Befehlsgewalt über andere ausgestatteten Menschen, festgehalten werden. In den Grenzen, in denen menschliche Rechtsprechung möglich ist, muß in jeder Gemeinschaft um ihrer selbst willen das Unrecht als verwerflich gekennzeichnet und bestraft werden." Es darf nicht geschehen, daß der Mord an den 600 030 Juden, die in Belzec vergast wurden, ungesühnt bleibt. Es wäre ein Unrecht.

Quelle: DIE ZEIT, Ausgabe 03.12.1965 Nr. 49; von Dietrich Strothmann


Andreas Jordan, September 2008

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