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Ernst Käsemann

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Abstimmung über eine nicht zur Entscheidung vorliegende Beschlussvorlage

6. Juni 2012. In gestriger Sitzung hat die Bezirksvertretung Süd darüber abgestimmt, dass man über den Antrag von Klaus Brandt "nicht abstimmt, um für Alternativen in alle Richtungen offen zu bleiben." Dabei hatte die Verwaltung die Beschlussvorlage zur Parkbenennung bereits mit Datum vom 01.6.2012 zurück-gezogen, da der vermeintlich namenlose Park doch einen Namen trägt. Wie kann dann über eine nicht zur Entscheidung vorliegende Beschlussvorlage entschieden werden?

WAZ online schreibt am 5.6.2012 dazu: "Bezirksvertretung Süd entscheidet, nicht zu entscheiden"
Blog "Meine Meinung" schreibt am 5.6.2012 dazu: "GE-Posse: Rederecht zu Unrecht verweigert"

Gelsenkirchener Posse: Ach, wie gut, dass niemand weiß...

2. Juni 2012. Klaus Brandt ist stocksauer. Die Verwaltung hatte in der Vorlage für die Sitzung der Bezirksvertretung Süd am 5. Juni bereits empfohlen, seinem Antrag zur Umbenennung der im Volksmund "Invalidenpark" genannten Grünfläche in Ernst-Käsemann-Park zu folgen.

Jetzt folgte die Vollbremsung. Da hatte die Verwaltung doch tatsächlich vergessen, dass die Grünfläche in Rotthausen bereits seit 2005 den Namen "Dahlbuschpark" trägt. Bereits im April 2005 hatte die Bezirksvertretung Süd einen dahingehenden Vorschlag der CDU ohne entsprechende schriftliche Vorlage einstimmig abgesegnet, daran erinnert sich jetzt ein Teilnehmer der damaligen Sitzung.

Die Tatsache, dass die Namensgebung "Dahlbuschpark" bereits nach einigen wenigen Jahren wieder dem kollektiven Vergessen anheim gefallen ist, zeigt doch, dass es keine glückliche Namenswahl war. Die Bezirksvertretung sollte dem Antrag von Klaus Brandt folgen und den Park nach Ernst Käsemann benennen, hier ist der historische Bezug zum Wirken und dem mutigen Widerstand gegen das NS-Regime von Ernst Käsemann doch wesentlich stärker. Der Name Dahlbusch dagegen erinnert untrennbar auch an die gleichnamige Zeche, auf der zwischen 1941-1945 Kriegsgefangene als Sklaven- und Zwangsarbeiter bis zum Tode ausgebeutet wurden.

Bürgerantrag: Park nach Ernst Käsemann benennen

15. März 2012. Die Grünfläche an der Steeler Straße in Gelsenkirchen-Rotthausen zwischen Beethoven- und Mozartstraße soll bald “Ernst-Käsemann-Park” heißen. Diesen Vorschlag machte jetzt der Rotthauser Klaus Brandt in einem Bürgerantrag an die Bezirksvertretung Süd und betont dabei die identitätsstiftende Bedeutung der Namensgebung. Klaus Brandt stützt seine Antragsbegründung auf den hier veröffentlichten Aufsatz von Richard Walter, der von 1956 bis 1988 als Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde Rotthausen tätig war. In dem Aufsatz beschreibt Richard Walter das Wirken von Ernst Käsemann während der Gewaltherrschaft der Nazis.

Es war Ernst Käsemann, der mit seinem mutigen Eintreten für die evangelischen Kirchengemeinde Rotthausen, deren Pfarrer er in den Jahren 1933-1946 war, auf den Weg des Widerstandes gegen die national-sozialistischen “Deutschen Christen” geführt hat. Käsemann schloss sich Anfang 1934 der „Bekennenden Kirche“ an und sorgte dafür, dass die evangelische Kirchengemeinde Rotthausen mit großer Mehrheit zu einer „Bekenntnisgemeinde“ wurde. In Bittgottesdiensten und Predigten kritisierte Ernst Käsemann immer wieder die Irrlehren der “Deutschen Christen” und auch die menschenverachtende Ideologie der Nazis. Er nahm dabei Gestapo-Haft und die ständig drohende Einweisung in ein Konzentrationslager in Kauf.

Nach 1945 schrieb Käsemann im Rückblick: “Offensichtlich war unser Widerstand in der Nazizeit nur halbherzig. Wir haben das Evangelium und kirchliche Ordnungen verteidigt, sind jedoch durchweg nicht in den politischen Untergrund gegangen, wie die Mitmenschlichkeit es vielfach gebot.” Bis zu seinem Tod hat Ernst Käsemann gern von seinen Erfahrungen in „seiner Gemeinde Rotthausen“ gesprochen: “Der Widerstand und die Leiden dieser Jahre haben mich für mein weiteres Leben und in meiner theologischen Existenz geprägt.“ Zeit seines Lebens bleibt er der evangelischen Kirchengemeinde Rotthausen verbunden. Ernst Käsemann starb 17. Februar 1998 in Tübingen.


Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

von Richard Walter

Einleitung

Der Kirchenkampf beginnt

Mit der Gemeinde auf dem Weg in den Kirchenkampf

Klare Verhältnisse in Rotthausen nach den Bekenntnissynoden von 1934

Schwerpunkt Schriftauslegung und Predigt

Predigt im Bittgottesdienst am 15. August 1937, anschließend Verhaftung

Bewährung im Widerstand gegen kirchenregimentlich-deutschchristliche Angriffe

Positionsbestimmung im April 1939

Mitarbeit an der Erneuerung der Kirchenordnung nach Kriegsende

Ausblick auf den weiteren Weg als Professor für Neues Testament

Quellen, Schriften, Literatur


"Herr, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns denn du, aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens."

Jesaja 26,13

Ernst Käsemann, 1986

Ernst Käsemann, 1986


Einleitung 

Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

Der Westfale Ernst Käsemann (1906-1998), nach dem Zweiten Weltkrieg ein in der ökumene anerkannter Erforscher des Neuen Testaments, wirkte von 1933 bis 1946 als Pfarrer in der Evangelischen Kirchengemeinde Gelsenkirchen-Rotthausen. In dieser Stadt liegt auch die Glückauf-Kampfbahn, wo der FC Schalke 04 gerade in jenen Jahren seine Triumphe feierte.

Die Bergarbeitergemeinde war seit der Machtübernahme Hitlers ein Ort, wo der Kirchenkampf innerhalb der Evangelischen Kirche mit großer Härte geführt wurde: Es bildete sich eine Front der Bekennenden Kirche (BK) gegen die Irrlehren der Deutschen Christen (DC) und ihren Versuch, die Kirche in den Gleichschritt mit dem totalitären NS-Staat und seiner Ideologie zu bringen.

Ich selbst habe von 1956 bis 1988 als Pfarrer in dieser Gemeinde gearbeitet und hier erfahren: Ernst Käsemanns klare biblische Verkündigung, seine Entschiedenheit im Presbyterium und bei der Gestapo, seine Hilfsbereitschaft auch verfolgten Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschaftern gegenüber waren und sind hier lebendige Erinnerung.

Umgekehrt hat Ernst Käsemann bis zu seinem Tode gern von seinen Erfahrungen in "seiner Gemeinde Rotthausen" gesprochen und stets dankbar bekannt: "Der Widerstand und die Leiden, die Glaubenserfahrungen und theologischen Erkenntnisse dieser Jahre haben mich für mein weiteres Leben und in meiner theologischen Existenz geprägt." Wenn ich im Folgenden über Ernst Käsemanns westfälische Jahre berichte, so muss ich ihn vor allem mit seiner Verkündigung im Kirchenkampf zu Wort kommen lassen. Aber ich will anschließend auch in gebotener Kürze seinen weiteren Weg als Professor für Neues Testament zeigen. Denn aus überzeugtem Glauben lutherischer Prägung zum leidenschaftlichen kritischen Theologen geworden, fühlte er sich auch mit seiner sein späteres Leben ausfüllenden wissenschaftlichen Arbeit weiterhin für die Gemeinde wie für die Kirche weltweit, ihre Verkündigung sowie ihre Aufgaben in der jeweiligen Gegenwart verantwortlich.

Auf seinen Weg als theologischer Lehrer zurückblickend stellt er einmal fest: "Lehre ist Anweisung zur Praxis der Nachfolge, Theologie eine notwendige Funktion der Gemeinde, nicht Herrscherin über den Glauben. Sie ersetzt nicht den Heiligen Geist, hilft jedoch zur Unterscheidung der Geister und erwägt aus der Liebe heraus, wie weit historische Realitäten Möglichkeiten des Weges in die Gegenwart sind und bleiben oder wo und wie sie Ackerland versteppten, das neu gepflügt werden muss, um heute Brot für die Welt spenden zu können." Woher kam dieser Mann?

Ernst Käsemann ist am 12. Juli 1906 in Bochum-Dahlhausen geboren. Dort war sein Vater Lehrer an der Volksschule, wechselte 1909 nach Essen. Er fiel schon 1915 in Russland. Die Mutter blieb mit dem Sohn und einer jüngeren Tochter in Essen, wo Ernst dann das Burggymnasium besuchte. äußerlich waren es harte Jahre. Zu Zeiten nahm der Großvater seines Vaters Stelle ein, ein strenger Lehrer, der seinen Enkel anhielt, seinen Kopf zu gebrauchen. Schon früh begann dieser nach unvermeidlicher Karl-May-Lektüre, sich in die WerkeShakespeares, der deutschen Klassiker und Romantiker zu vertiefen, die im Bücherschrank seines Vaters standen. Seine Jugend sei einsam und ziemlich freudlos gewesen, so erzählt er einmal, bis er während der letzten Schuljahre Zugang zum Essener Jugendpfarrer Weigle fand. Seitdem besuchte er zweimal in der Woche dessen Jugendhaus im Stadtzentrum.

Hier erfährt sein Leben die entscheidende Wende, die ihn dann auch auf den Weg der Theologie führt. "Mir wurde durch ihn klar, was ich unbewusst gesucht hatte, nämlich den Herrn, dem ich mich ausliefern konnte und der mir Weg und Ziel im Leben wies. Vor aller mich später packenden Existenz-Theologie und ohne Kenntnis der Christopheruslegende wurde mir bewusst, dass jeder Mensch seine Eigentlichkeit, moderner gesagt: seine Identität, nur durch den Herrn oder Dämon erfährt, dem er sich selbst zu eigen gibt. Keiner gehört sich selbst. Den Menschen gibt es nur in unterschiedlicher Weise, aus zu entdeckender Partizipation."

Nach dem Abitur begann er im Sommersemester 1925 in Bonn mit dem Studium der Theologie. Dort schlug ihn sogleich Erik Peterson mit seinem Römerbrief-Kolleg und besonders mit seiner Lehre von der Kirche nachhaltig in seinen Bann. Doch trieb Neugier und Wissensdurst den Studenten, nebenbei auch noch Vorlesungen anderer Fakultäten zu besuchen. Bereits nach dem ersten Semester wechselte er nach Marburg.

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Dort wurde er anerkanntes Glied im Kreis der sogenannten Marburger Schule und hatte Martin Heideggers Philosophie und Bultmanns historisch-kritische Arbeit am Neuen Testament zu verkraften. Allerdings fragte man ihn immer wieder, "wie er seinen Pietismus mit radikaler historischer Kritik vereinen könne." Wie das geht, hat er auf seinem theologischen Weg eindrücklich und überzeugend bewiesen. "Der Glaube kann auf das Denken nicht verzichten. Sonst wird er steril." Und "Theologie hat gerade deshalb radikal und kritisch zu fragen, damit die Kirche frei und entschlossen handeln kann", wurde später zur Maxime seiner Arbeit. Die damals erschienenen Schriften Karl Barths, zu der Zeit Professor in Münster, las der Student heißhungrig, machte dann aber einen Abstecher nach Tübingen. Er wollte dort vor allem Adolf Schlatter hören, der ihm neben Peterson und Bultmann zum dritten wichtigen wurde.

Nebenbei betätigte sich Ernst Käsemann auch aktiv im DCSV, der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung, der Vorläuferin der späteren Evangelischen Studentengemeinden, denen er auch als Hochschullehrer immer verbunden blieb. Ostern 1929 schließt er sein Studium mit dem ersten theologischen Examen ab, absolviert bis zum Herbst in Zieverich an der Erft das Gemeindevikariat und geht bis Herbst 1930 ins Predigerseminar in Soest. Gleichzeitig schreibt er seine später starker Selbstkritik unterzogene Dissertation über "Leib und Leib Christi." Das Thema hatte ihn seit seinem ersten Semester und der Begegnung mit Petersons Lehre von der Kirche stark beschäftigt. Im Sommer 1931 wurde er bei Rudolf Bultmann in Marburg zum Licentiaten der Theologie promoviert, wie man damals den Doktor der Theologie nannte. Im Oktober des gleichen Jahres folgt das zweite Examen in Koblenz und anschließend die Hilfspredigerzeit als Synodalvikar beim Superintendenten in Wuppertal-Barmen. Ende 1932 wählt und beruft ihn die Evangelische Kirchengemeinde Rotthausen, damals noch zum Kirchenkreis Essen (Rheinland) gehörig, zum Pfarrer ihres I. Pfarrbezirkes.

Erst nach einwöchiger Bedenkzeit, die er sich erbeten hatte, um sich seiner Berufung in die große Bergarbeitergemeinde ganz gewiss zu sein, sagte der 26-jährige zu. Im Einführungsgottesdienst am 12. Februar 1933 sagt er in seiner Predigt über 2. Korinther 1, 24 der Gemeinde, er wolle als Bote und Gehilfe zur Freude wirken. Aber Christenfreude sei kämpfende Freude. Zu kämpfen gelte es, dass die frohe Botschaft über die Erde dringe. "Ich bin für alle berufen, aber es allen recht machen, das kann ich nicht."

Am 27. April 1935 heiratet Ernst Käsemann die Musikstudentin Margrit Wizemann aus Kamp-Lintfort. Dem Ehepaar werden die Kinder Dietrich (1936), Ulrich (1939), Eva (1943) und Elisabeth (1947) geboren. Der älteste stirbt schon 1945 an Diphtherie. Elisabeth wird 1977 in Argentinien, wo sie sich als Soziologin innerhalb der Sozialistischen Arbeiterbewegung für die Armen und Unterdrückten engagiert hatte, unter dem Regime Videla ermordet. Sie war in ihrer radikalen Entschiedenheit und Konsequenz dem Vater sehr ähnlich.

Der Kirchenkreis Gelsenkirchen und Wattenscheid nennt seine Familienbildungsstätte seit 1997 mit Zustimmung der Eltern Elisabeth-Käsemann-Haus." Im Juni 1940 wird Pfarrer Lic. Käsemann zum Wehrdienst als Infanterist eingezogen, jedoch im Februar 1941 reklamiert. Er muss im Februar 1943 erneut einrücken und kommt in Griechenland zum Einsatz. Im August 1945 kehrt er aus der Kriegsgefangenschaft in die Gemeinde zurück, nachdem er das berüchtigte riesige Hungerlager, für viele der Soldaten ein Todeslager, bei Bad Kreuznach überstanden hatte. Zum Sommersemester 1946 beruft ihn die Universität Mainz an ihre Evangelisch-Theologische Fakultät, wo er ab Oktober des Jahres ordentlicher Professor für Neues Testament wird. Eine von der westfälischen Kirchenleitung befürwortete Berufung an die Universität Münster schon Ende 1945 war von der britischen Militärverwaltung wegen seiner halbjährigen Zugehörigkeit zu den Deutschen Christen von Juli bis Dezember 1933 nicht bestätigt worden.

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Der Kirchenkampf beginnt 

Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

Die Gemeinde Rotthausen, die nach Monaten der Vakanz auf ihren jungen Pfarrer wartete, umfasste in den dreißiger Jahren etwa 15.000 Gemeindeglieder in drei Pfarrbezirken; 550 Kinder besuchten im Durchschnitt jährlich den Kirchlichen Unterricht; 1933 waren Gemeindeglieder in 24 Vereinen beziehungsweise Gruppen aktiv, auch in der Bekämpfung der ungeheuren Arbeitslosigkeit und Armut jener Jahre. Man verstand sich in protestantischer Tradition als Volkskirche, sorgte sich um "sittlich-moralische Gesundung" des Volkes nach verlorenem Ersten Weltkrieg, arbeitete auch intensiv an einer geistlichen Erneuerung der Gemeinde.

In die Größere Gemeindevertretung, die seinerzeit neben dem Presbyterium Leitungsaufgaben wie zum Beispiel Pfarrwahlen wahrzunehmen hatte, waren bei den kirchlichen Wahlen im November 1932 unter 48 Gemeindevertretern auch zwei Sozialdemokraten, die den "Volksbund Evangelischer Sozialisten" vertraten, gewählt worden und vier damals erstmalig auftretende "Deutsche Christen". Letztere hatten dem neuen Pfarrer ihre Stimme verweigert.

Nicht ganz unwichtig ist es, auch einen Blick auf die gesellschaftliche Situation und die politische Konstellation vor Ort am Vorabend der Machtergreifung durch Hitler zu werfen. Rotthausen ist heute ein südlicher Stadtteil von Gelsenkirchen, in den 20er und 30er Jahren noch überwiegend vom Bergbau bestimmt. Vor allem Bergarbeiterfamilien, neben Rheinländern und Westfalen, Hessen, einigen Pommern, Polen und Schlesiern, bilden besonders viele aus dem landwirtschaftlich kargen südlichen Ostpreußen zugewanderte evangelische Masuren hier die Gemeinde.

Das örtliche Wahlergebnis für Rotthausen bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 macht deutlich: Der gleich nach dem Ersten Weltkrieg hier außerordentlich stark ins politische Kräftefeld eingedrungene kommunistische Einfluss, dem sich auch viele Söhne und Enkel der einst eingewanderten kaisertreuen und meist frommen Masuren geöffnet hatten, hat seine Position gehalten. Mit 32,68 % ist der Anteil der KPD hier doppelt so hoch wie im Reich, der der SPD 11,06 % gegenüber 20,40 %, der Anteil des Zentrums mit 28,10 % hoch über dem des Reiches mit 11,70 %, bei 11,61 %, die zusammen auf die DNVP, Dt. VP und den Ev. Volksdienst kommen. Die NSDAP erreichte 16,45 % gegenüber 33,10 % im Reich. Noch am 5. März 1933 kommen auf die NSDAP hier erst 29 % , auf die KPD immer noch fast 24 %, auf die SPD 9 %, auf das Zentrum noch 28 % der Stimmen.

So erklärt sich manches, was bewusst evangelische Kreise in den Zwanziger Jahren umtrieb: besonders tief sitzende ängste vor der Aktivität der "Roten" einschließlich SPDvnach der einen, Abgrenzungsbemühungen gegenüber dem katholischen Einfluss im Zentrum nach der anderen Seite und unter anderem deswegen ein starkes Sympathisieren beziehungsweise sich Identifizieren mit den deutschnationalen sowie konservativen Kräften. Der Demokratie stand man ablehnend gegenüber. So hat auch die Mehrheit der evangelischen Pfarrer die Machtergreifung durch Hitler begrüßt.

Ernst Käsemann verhielt sich politisch damals zunächst nicht anders. Auch er erhoffte so eine Wende zum Besseren im wirtschaftlichen Elend und politischer Schwachheit. Zudem waren die allermeisten für die Aufhebung des "Versailler Schandvertrages". Auf diese Zeit zurückblickend bekundet er in einem Beitrag zum 100jährigen Bestehen seiner ehemaligen Gemeinde, "wie wenig die meisten von uns sogenannten Amtsträgern den an uns gestellten Anforderungen gewachsen waren, und wie schwer und gefährlich es war, radikal zu werden im Zeichen des Gekreuzigten gegen Tyrannen und Ideologien und alte Tradition."

Während der neue Pastor in Rotthausen seinen Dienst aufnahm, führte im ganzen Reich der Weg in rasantem Tempo über das "Ermächtigungsgesetz" vom 24. März 1933, die folgende Zerschlagung der eigenständigen Verbände, der Gewerkschaften und Parteien, über die fortschreitende "Gleichschaltung" aller Lebensbereiche im Sinne der Staatspropaganda sowie die Durchsetzung des Führerprinzips auf allen Ebenen alsbald zur nationalsozialistischen Alleinherrschaft und zum totalen Führerstaat. Das wirkte auch in die Gemeinde, besonders in die Gestaltung ihres umfangreichen Vereinslebens, zum Teil gezwungenermaßen umgestaltend, hinein. Das Presbyterium, das sich nach der Wahl 1932 bis auf einen neu hinzugekommenen Deutschen Christen aus zumeist lange darin bewährten Männern zusammensetzte, versah seine Arbeit während dieser Wochen in gewohnter Weise, ohne dass die DC zum Zuge kamen. Das Schlagwort von der "nationalen Erhebung" und dass es dabei um ein "positives Christentum" gehe, wirkte allerdings in den ersten Monaten verführerisch!

Dem erlag der größere Teil der Gemeindeverordneten. Im Sommer 1933 greift der Nazistaat durch ein Machtwort aus dem preußischen Kultusministerium ein und versucht nun, eine Gleichschaltung auch der evangelischen Gemeinden zu erzwingen. Eine unter massiven Drohungen seitens der Parteiorgane vonstatten gehende Neuwahl, vor der Hitler selber im Rundfunk für die DC eintrat, ersetzt die große Mehrheit der bisher bewährten Mitglieder der Größeren Gemeindevertretung durch Deutsche Christen und kirchenferne, der Nazipartei zugewandte Männer.

Während Pfarrer Meyer sich heraushielt, stellten sich die Pfarrer Rüter und Käsemann, letzterer obwohl ihn bisher theologische Hemmungen davon abgehalten hatten im Juni 1933 auf die Seite der DC. Sie arbeiten dabei, auf eine volksmissionarische Möglichkeit setzend, mit und versuchen den sich bald zeigenden schlimmen Entwicklungen, offenkundigen Irrlehren und Bekenntnisverletzungen entgegenzuwirken. Sie bemühten sich mit aller Kraft, "um des lieben Friedens willen", den Kirchenstreit, der sich entwickelte, zu beenden, wie das in den Nachbargemeinden auch versucht wurde. Doch schon sehr bald machten sie tief enttäuschende, ernüchternde Erfahrungen: Unkirchlichkeit, Gleichgültigkeit gegenüber angebotener Bibelarbeit, ausschließlich politische Orientierung, ja Terror in den eigenen Reihen. Käsemanns späteres Fazit, was DC in Wahrheit war und wie er es erlebte: "... eine getarnte Organisation, der es einzig auf die totale Eroberung der Kirche für politische Ziele ankam, die mit allen Mitteln der und des Terrors und der Verleumdung sich durchsetzen und behaupten wollte."

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Mit der Gemeinde auf den Weg in den Kirchenkampf 

Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

Es kommt schon im Dezember 1933 zum Eklat und Bruch mit den DC. Käsemann vollzieht nun eine radikale Wende. Der kirchliche Vertrauensmann Hitlers, der Königsberger Wehrkreispfarrer Müller, war inzwischen unter Verdrängung des auch von der Mehrheit der Gelsenkirchener Pfarrerschaft gewünschten Leiters der Betheler Anstalten, Friedrich von Bodelschwingh, Reichsbischof geworden. Er schloss im Dezember 1933 aus eigener Machtvollkommenheit mit dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach einen Vertrag, durch den die evangelischen Jugendverbände in die Hitlerjugend überführt wurden.

Ernst Käsemann nahm am 9. Januar 1934 bei der Verhandlung über diesen Eingliederungsvertrag in der Größeren Gemeindevertretung sehr deutlich dazu Stellung. Daraufhin erhält er von der Ortsgruppe der DC ein Schreiben, in dem es abschließend heißt: "Die von Ihnen in der Aussprache gemachte äußerung, "Reichsbischof Müller treibt Verrat an unserer Kirche ließ nicht nur die von uns unbedingt geforderte Disziplin gegenüber der Führung vermissen, sondern stellte indirekt auch eine unwürdige Herabsetzung von leitenden Männern des Staates und der Kirche dar." Und es folgt die Ausschlusserklärung aus der DC mit sofortiger Wirkung.

Käsemann bleibt eine Antwort nicht schuldig, wird vom Vorsitzenden der DC auch angezeigt und zum ersten Mal von der Gestapo vorgeladen und verwarnt. Sogleich tritt er dem bereits Ende September 1933 von Pfarrer Martin Niemöller in Berlin-Dahlem gegründeten Pfarrernotbund bei. Er unterschreibt dessen Verpflichtung, mit der er auch bezeugt, "dass eine Verletzung des Bekenntnisstandes mit der Anwendung des Arierparagraphen im Rahmen der Kirche geschaffen ist."

Der Gemeinde teilt er diesen Schritt öffentlich mit. Damit war seine Position für die Zukunft markiert. Willkürakte sowie Brüche der geltenden Kirchenordnung von Seiten der an die Macht gekommenen DC häufen sich. Da wendet sich auch in der Gemeinde das Blatt. Am 16. März 1934 war die in Dortmund tagende westfälische Provinzialsynode von der Gestapo aufgelöst worden, nachdem ihr Präses Koch die von Reichsbischof Müller unter widerrechtlicher Aufhebung von Bestimmungen der Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung angeordnete Auflösung bzw. Umbildung derselben abgelehnt hatte.

Am selben Tag konstituierte sich nun eine westfälische Bekenntnissynode aus bekenntnistreuen Ersatzleuten und übertrug die Leitung Präses Koch. Der widerrechtlich eingesetzte DC-Bischof für Westfalen, Pfarrer Adler, setzte dann die von Müller gewünschte "neue Provinzialsynode" aus DC ein und fungiert als deren Präses. In einem Wort an die Pfarrer vom 23. März 1934 mahnt er diese sowie die Glieder der kirchlichen Vertretungen sogleich, "ihrer Gelübde eingedenk und der kirchlichen Obrigkeit gehorsam zu sein, wie es sich gebührt" und "dass auch die einzelnen Glieder sich pflichtmäßig der Lebensordnung des Ganzen einfügen."

Daraufhin stellen sich die Rotthauser DC hinter diese "gesetzliche kirchliche Obrigkeit", wie sie jetzt geflissentlich betonen, und sprechen dem Reichsbischof Müller, dem von Müller bestimmten Bischof Adler und der "neuen" westfälischen Provinzialsynode das Vertrauen aus. Sie verlangen, dass die beiden Leitungsgremien der Gemeinde dies beschlussmäßig feststellen. Die drei Pfarrer und 11 Gemeindeverordnete votieren mit bemerkenswerter Klarheit dagegen: "Ein Gewaltregiment ist aufgerichtet. Das Priestertum aller Gläubigen ist zerstört. ... Abgötterei und Eigennutz haben in der Kirche des Evangeliums keinen Platz ... Das Gelübde fordert in diesem Augenblick nicht zum Gehorsam gegen die kirchliche Obrigkeit, sondern zum Ungehorsam auf." "Die übergriffe sind allein durch das Führerprinzip geschaffen ... In die Bewegung der DC wie in den Reichsbischof kann man kein Vertrauen haben."

Und es wird zu Protokoll gegeben, dass sich die drei Pfarrer der geistlichen Leitung der gerade in Dortmund gebildeten Bekenntnissynode unterstellen und zusammen mit 11 Gemeindeverordneten "aus Gewissens- und Bekenntnisgründen" gegen den Antrag der DC stimmen. Es kommt zum Kampf, und es bahnt sich in Rotthausen bereits in diesen Tagen die Trennung einer Bekenntnisgemeinde von den Deutschen Christen an. In der darauf folgenden Sitzung erklärt die DC-Mehrheit, dass sie nicht gewillt sei, unter dem Vorsitz von Pfarrer Lic. Käsemann zu tagen, da er alle die, die dem DC-Antrag zugestimmt haben, nicht mehr als Presbyter beziehungsweise Gemeindeverordnete anerkenne und ihnen die Treue zum Bekenntnis abspreche, und verlässt die Sitzung. Sie finden sich aber ab Mai wieder zur Mitarbeit ein. Jetzt tritt auch Pfarrer Rüter, der sich unter anderem mit Gottesdiensten in masurischer Sprache besonders um die vielen ostpreußischen Zuwanderer kümmerte, aus der DC-Ortsgruppe aus. Er wie auch Pfarrer Meyer treten nun ebenfalls dem Pfarrernotbund bei.

Nach und nach verschärfen sich die Auseinandersetzungen derart, dass der Vorsitzende, Pfarrer Käsemann, die Sitzungen der beiden Gremien ab Ende August 1934 ohne Gebet eröffnet und sie rein geschäftsmäßig durchführt, "da eine innere Gemeinschaft unmöglich geworden ist." Nach dem 12. Oktober können überhaupt keine Sitzungen mehr stattfinden. Eine Lösung des Konfliktes durch den Gelsenkirchener DC-Kreissynodalvorstand und das Konsistorium in Münster kam nicht in Betracht, weil die Pastoren sowie bekenntnistreue Gemeindeverordnete diese Instanzen nicht mehr als auf dem Boden des Rechtes befindlich anerkennen konnten.

Es war, was die Leitung der Gemeinde anbetraf, in der Tat ein Notstand eingetreten, der eine Trennung von den häretischen, kirchenzerstörenden DC und eine neue Zusammensetzung der leitenden Gremien auf der Basis der tatsächlichen Verhältnisse in der Gemeinde unvermeidlich machte. Es gab in Rotthausen trotz ihrer übermacht im Presbyterium und in der Größeren Gemeindevertretung sowie ihrer Propaganda nicht mehr als 180 Mitglieder in der Ortsgruppe der DC eine verschwindende Minderheit, mit abnehmender Tendenz. Dagegen war die seit Wochen sich zusammenfindende Bekenntnisgemeinde im Herbst 1934 bereits auf 900 Gemeindeglieder angewachsen, die die für sie eingeführte rote Verpflichtungskarte unterschrieben. 600 von 800 Beziehern wechselte das Gemeindeblatt, weil der gewohnte "Sonntagsfreund" sich zunehmend zum Organ der DC entwickelte. 1500 Mitglieder in den drei hilfen und die Jugendgruppen mit ihren beiden Leitern, unerschrocken bekenntnistreuen Lehrern, hielten sich zur Bekenntnisgemeinde.

Dazu die nach Hunderten zählenden Gruppen der Ostpreußischen und der Lutherischen Gebetsvereine. Der Verband der letzteren hatte bereits am 3. September 1933 in einem Richtlinienpapier in deutlichen Sätzen erklärt, was sie von den Deutschen Christen trennt. Sie hatten zu der Zeit schon die "Volksmission" der Deutschen Christen durchschaut. Der ohnehin seit langem starke Gottesdienst- und Abendmahlsbesuch nahm noch zu. Das Zusammenstehen der drei Pfarrer im gemeinsamen Widerstand stützte die Gemeinde und diese unterstützte ihre Pastoren. Der anfängliche Führer- und Fahnenrausch wich jetzt einer Ernüchterung.

Die Familien der verfolgten Sozialisten standen natürlich nicht auf der Seite der Nationalsozialisten. Viele KPD- und SPD-Mitglieder leisteten weiterhin aus dem Untergrund Widerstand, nachdem eine wahre Jagd auf sie in Gang gesetzt worden war. Käsemann kam mit ihnen durch seine Haus- und Krankenbesuche in nähere Berührung und mied sie nicht, im Gegenteil: "Ging den Pfarrer nur die Gemeinde an? Waren die, welche den Gottesdienst nicht besuchten, atheistisch dachten, zur kommunistischen Partei gehört hatten und auch nach deren Auflösung ihr treu blieben, Menschen, um die er sich nicht zu kümmern brauchte? In Rotthausen war das unmöglich." Bei diesen Menschen fühlte er sich später sogar besonders sicher! Käsemann begann offenbar anders zu denken als die allermeisten in der Kirche, die die "rote Gefahr" beschworen. "Lieber braun als rot" lief als Slogan um. Es war gewiss ein dankbares Echo, als einer aus dieser Generation mir einmal vorschlug, ein neu gelegtes Straßenstück nach Pastor Käsemann zu benennen. Andere der damals Verfolgten z.T. ins KL Esterwegen Verbrachten sprachen mit Respekt von ihm. "Die Gestapo stand ja Schlange vor seinen Gottesdiensten!"

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Klare Verhältnisse in Rotthausen nach den Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem 1934 

Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

Inzwischen Ende Mai 1934 war die "Theologische Erklärung von Barmen" verabschiedet worden. Damit war in der akuten Situation theologische Klarheit erreicht und für die Bekennenden Gemeinden in ihrem schwierigen Kampf, auch in Rotthausen grundsätzliche Aussagen über Auftrag und Wesen der Kirche verbindlich formuliert worden. Es fehlten noch Bestimmungen, die die faktische Trennung der Bekennenden Gemeinden von den Deutschen Christen in praktikable kirchliche Notverordnungen leiten könnten.

Die Rotthauser warteten ungeduldig darauf. Denn in ihrer äußerst bedrängenden Situation war eine von der Synode der Bekennenden Kirche autorisierte Handhabe so notwendig wie die Theologische Erklärung. Die 2. Bekenntnissynode in Berlin-Dahlem am 19. und 20. Oktober 1934 schafft dann auf Grund des kirchlichen Notrechtes eigene vorläufige Kirchenleitungsorgane und fordert die Gemeinden, ihre Pfarrer und ältesten auf, von der DC-bestimmten Reichskirchenregierung und ihren Behörden keine Weisungen entgegenzunehmen und sich von der Zusammenarbeit mit denen zurückzuziehen, die diesem DC-Kirchenregiment weiterhin Gehorsam zeigen wollen. Sie fordert dazu auf, sich vielmehr an die Anordnungen der Bekenntnissynode und deren Organe zu halten.

Als am 5. November vom Westfälischen Bruderrat dafür Ausführungsbestimmungen erlassen worden waren, gehen die drei Pfarrer und neun bekenntnistreue Gemeindeverordnete ohne Zögern daran, in Rotthausen die Trennung von den DC zu vollziehen. über diesen Vorgang und die nach gewohnter rheinisch-westfälischer Ordnung mit namentlicher Abkündigung vollzogene Einführung einer bekenntnistreuen Gemeindevertretung trägt Käsemann folgenden "Vermerk" ins Protokollbuch ein:

"Nachdem die Deutsche Evangelische Bekenntnissynode sich am 20.10.1934 als die allein bekenntnisgegründete und daraus rechtmäßige Kirchengewalt proklamiert und die Westfälische Bekenntnissynode dementsprechende Ausführungsbestimmungen erlassen hatte, trat in unserer Gemeinde ein Notstand ein, der sich praktisch schon längst, zumal in den letzten Vertretersitzungen gezeigt hatte. Das Presbyterium folgte geschlossen, die Gr. Gemeindevertretung in ihrer überwiegenden Zahl dem tyrannischen und darum widerchristlichen, also nach den Bekenntnisschriften auch unrechtmäßigen D.C.-Kirchenregiment. Sie mussten infolgedessen als ihres Amtes verwirkt betrachtet werden, wie sich denn auch an allen wichtigen Punkten eine fernere Zusammenarbeit mit ihnen als unmöglich erwies.

Der Bruderrat der Bekenntnisgemeinde, der auch als der Vertreter des zahlenmäßig bei weitem überwiegenden Gemeindeteils anzusehen ist, zog daraus die Konsequenz und stellte unter Belassung der bekenntnistreuen Mitglieder der Gr. Gemeindevertretung im Amt eine neue Vertretung auf, die von der Westfälischen Bekenntnissynode aufgrund des Notrechts auch als rechtmäßig bestätigt wurde. Nach zweimaliger Abkündigung am 11. und 18.11.1934 wurde diese neue Gemeindevertretung im Hauptgottesdienst des Buß- und Bettages, am 21.11.1934, unter Assistenz sämtlicher Pfarrer, vom Praeses feierlich eingeführt. 23.11.1934 Lic. Käsemann, Pfarrer, praes. presb."

Die Umstände, unter denen dies vonstatten ging, machen deutlich, welch ein Risiko die Bekenntnisgemeinde mit ihren Pfarrern damals einging. Es gab natürlich Proteste und wie vorher schon öfter verleumderische Angriffe von Seiten der DC-Presbyter und -Gemeindeverordneten. Sie kündigten öffentlich an, die Einführung auch mit Gewalt verhindern zu wollen. Deshalb gab Käsemann mit seiner schriftlichen dringlichen Einladung zum Gottesdienst gleich genaue Verhaltensmaßregeln für diesen Fall mit und beauftragte Ordner.

Dann erschien am Vorabend des Bußtages der Chef der Leitstelle Recklinghausen der Gestapo, Graf Stosch, bei den Pfarrern. So berichtet Käsemann in einem Brief zum 50. Jahrestag an die Gemeinde und erklärte, dass er sie nach einer Weisung aus Berlin "in Schutzhaft zu nehmen und die Einführung am nächsten Tage zu unterbinden hätte. Er (Stosch) habe geantwortet, dass er die Lage fest in den Händen halte und fragte uns dann, ob wir auch angesichts der uns drohenden Verhaftung bei unserem Entschluss blieben. Als ich, damals Praeses des Presbyteriums, das bejahte, antwortete er, dass er uns dann schützen werde." Dieser Mann hatte offenbar auch die DC gewarnt.

Und am Bußtag morgen stand eine starke Polizeieinheit in Rotthausen in Bereitschaft. Die große Kirche war schon früh ganz voll besetzt. Graf Stosch saß mit fünf Gestapo-Männern auf der Mittelempore mitten in der Gemeinde. Käsemann predigte über Jeremia 7,1-15, den Anfang der Tempelrede des Propheten unter dem Thema "Ein Bußruf an die Kirche" und kommt deutlich zur Sache. Der Bußtag war für diese Einführung bewusst gewählt worden. Aus dieser Predigt ein paar Sätze:

"Es gibt das, einen Bußruf an die Kirche. Vielleicht waren die entsetzlichen Erschütterungen des letzten Jahres auch darum notwendig, um das wieder einmal zu lernen und dieses Wissen nicht nur den außerhalb der Kirche Stehenden zu überlassen."

"Natürlich, der Tempel war da, und Bibel und Bekenntnis sind auch da. Aber sie sind da nicht als unsere Verteidiger, sondern als unsere Ankläger. Sie sind Zeugen unserer Schuld. Denn hätten sie wirklich in unserem Leben gestanden, wäre es niemals so weit gekommen. Hätte ihr heiliger Geist mehr Macht über uns gehabt, so würde kein unheimlicher Geist über uns Macht gewonnen haben. Wären wir ihnen gefolgt, so wären wir nicht den Götzen dieser Zeit verfallen. Man hat nur angetastet, was wir weithin schon längst vorher preisgegeben hatten."

"Wenn an diesem Buß- und Bettag überhaupt ein Ruf ertönen soll, kann es nur der sein: Die ganze Kirche tue Buße ohne Ausnahme der Parteien, der Gemeinden, der Pastoren, der Frommen!"

"Denn die Reinigung der Christenheit erfolgt niemals in Bausch und Bogen. Sie beginnt im allerpersönlichsten Leben jedes Einzelnen. Sie beginnt so, dass wir uns für uns und die Unsrigen unter das Gericht stellen, ohne dass es seit Golgata keine Gnade mehr gibt. Alle Erneuerung der Kirche erfolgt zunächst so, dass die wahren Christen sich im Gebet und durch die Schriftlesung von ihrem Herrn ob ihrer Schuld strafen lassen. Und sie geht so weiter, dass wir Gebet und Gotteswort durch uns Macht gewinnen lassen in unserem Lebenskreise, richtende und vergebende Macht. Richtende Macht, denn kein Christ hat das Recht, sich und seine Kirche durch fremden Geist verwüsten zu lassen. Wer schweigt, hilft mit. Und wer mithilft, ist mitschuldig. Und wer mitschuldig ist, wird mit verurteilt. Aber auch vergebende Macht, denn niemand von uns hat die Vergebung nicht nötig. Und Pharisäertum verwüstet die Kirche Christi ebenso sehr wie Irrlehre und Tyrannei.

Wer selber unter dem Gericht gestanden hat, hat keine Lust, andere zu verdammen, auch wenn er sich von ihnen scheidet. Nur der Herr der Kirche wird verdammen, und zwar nach dem Maßstab seiner Allwissenheit und Gerechtigkeit. Uns aber ist allein die Buße, d. h. die Umkehr und Reinigung, befohlen, in der Gottes Wort ein Richter der Herzen und der Gemeinden wird und alle andere Gewalt in der stürzt und sich allein zum Führer und Herrn unseres Lebens macht. - "Bessert euer Leben und Wesen, so will ich bei euch wohnen an diesem Ort", spricht der Allmächtige zu uns. Das ist Forderung und Verheißung zugleich, ... auch für unsere deutsche evangelische Kirche, die neuer Ordnung und neuer Gnade bedarf." Danach nahm Käsemann, assistiert von seinen beiden Amtsbrüdern, die Verpflichtung und Einführung der 48 neuen Gemeindeverordneten vor. Vielen sei ihre Bewegung anzumerken gewesen, wird berichtet und dass der Gottesdienst in Ruhe und Würde verlaufen sei, ohne jede Störung. An der Orgel saß übrigens Siegfried Reda, den Käsemann wegen seines schnellen Tempos schätzte.

Graf Stosch, die Gestapomänner und die Polizeieinheit rückte ab, ohne einzugreifen, mit ihnen die DC. "Ein wahrhaftiges Mirakel", schreibt Käsemann. Warum der hohe Funktionär so gehandelt hat, bleibt sein Geheimnis. Käsemanns Vermutung, der Gestapoführer habe stillgehalten, weil man in diesem Augenblick im Industrierevier keinen Aufstand brauchen konnte, ist nicht ganz unbegründet. Geheime Lageberichte der Gestapo der Jahre 1935 und 1936 nach Münster und Berlin offenbaren, dass nach anfänglicher Aufbruchstimmung 1933 sehrbald Ernüchterung in der Bevölkerung eintrat, weil sich ihre wirtschaftliche Lage nicht verbessert hatte, auch weiterhin Arbeitslosigkeit herrschte. Jedenfalls hätte dieser entscheidende Akt der Trennung von den DC in Ausführung der Dahlemer Beschlüsse und die Verhinderung der Gleichschaltung der Rotthauser Gemeinde ohne das Verhalten dieses Mannes nicht gelingen können. Dessen war sich Käsemann sehr wohl bewusst.

Aber es bleibt ebenso festzuhalten der Mut, mit dem Pfarrer und Gemeinde diesen Schritt wagten und auch vor der Androhung einer Verhaftung nicht zurückwichen. Zu Käsemanns Enttäuschung blieb die Rotthauser Gemeinde damit im Kirchenkreis, wie in der estfälischen Kirche, offenbar allein. Was mit den Dahlemer Beschlüssen als "Höhepunkt des Kirchenkampfes" empfunden, als hilfreich begrüßt wurde, gar einen wirklichen, tiefergreifenden Neuanfang, "eine neue Kirche", ermöglichen sollte, wie manche hofften, wurde schon an jenen Novembertagen 1934 durch die hier nicht auszuführenden Vergänge im Reichsbruderrat sowie mit der Zusammensetzung der "Vorläufigen Kirchenleitung" just am Bußtag 1934 abgeschwächt und in Bahnen von Kompromissen geleitet. So breitete sich in den Bekenntnisgemeinden, die fast überall neben den Deutschen Christen existierten, auch wieder Verunsicherung aus. Das war neben Mangel an Konsequenz und Entschlossenheit wohl mit ein Grund für das Alleinbleiben der Rotthauser in diesen entscheidungsvollen Wochen.

Es waren nicht leere Worte, wenn Käsemann in seinem Bericht über die Bußtagsereignisse an das im Unterschied zum Westfälischen Bruderrat vorher nicht angefragte Konsistorium in Münster u.a. auch das Folgende schrieb:

"Ich betone zum Schluss noch einmal, dass eine Rückkehr zu den alten Zuständen für uns, die wir mit dem Wohl und Wehe unserer Gemeinde auf Gedeih und Verderb verbunden sind, ausgeschlossen ist. Wir sind bereit, jeden Tag unser Amt zur Verfügung zu stellen und uns persönlich gegen die gegen uns betriebene politische Hetze bis ins Konzentrationslager bringen zu lassen. Wir scheuen keine Drohung, keine Verleumdung, keine Gefahr und keine Verantwortung. Lieber wollen wir Gemeinde und Kirche verlassen. Und wir wissen, dass die Treuesten gerade aus unserer armseligen Arbeiterschaft mit uns in die Wüste gehen werden, gleichgültig wie kirchliche Behörden und Staat diesen Schritt beurteilen mögen. Wir können nur einer Kirche dienen, die sich gegen ihre äußere und innere Zersetzung mit der Entschlossenheit zum Letzten wehrt. Wir wollen Ordnung und Frieden auch und nicht zum mindesten um unseres Volkes willen, aber allein eine wahrhaft kirchliche Ordnung und einen allein bekenntniswahrenden Frieden. Um der Gewissen der heute verwirrten und irre geleiteten Glieder unserer Gemeinde willen ist es uns von unserem Herrn verboten zurückzugehen."

Nach vielen Jahren bekennt der damalige Praeses des Rotthauser Presbyteriums, dass der Bußtag 1934 seinem "Leben richtungweisende Wende blieb." Die neue Größere Gemeindevertretung, vor allem das aus ihrem Kreis gewählte neue Presbyterium, nahm fortan sozusagen illegal seine Aufgaben bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches wahr, nach anfänglichem Hin und Her und wiederholtem Vorstelligwerden beim Konsistorium schließlich von diesem so geduldet. Allerdings wird ihm 1935 gemäß staatlicher Verordnung ein Finanzbevollmächtigter vorgesetzt, der sich jedoch immer auf die Seite der BK-Gemeinde stellte. Kirche und Gemeindehaus blieben der DC-Gruppe verschlossen. Nach dem Krieg wird dieses Bekenntnispresbyterium auf Antrag von der sich neu bildenden westfälischen Kirchenleitung vorläufig anerkannt und von der Gemeinde bei der ersten Presbyterwahl in seiner bisher bewährten Zusammensetzung bestätigt.

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Schwerpunkt Schriftauslegung und Predigt  

Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

Im November 1933 übernimmt Ernst Käsemann neben der Verantwortung für die Jugendarbeit die wöchentliche Gemeindebibelstunde, die für den promovierten Neustestamentler zu einem Schwerpunkt seiner Arbeit wird. Diese Bibelabende, die bald 200 bis 300 Männer und Frauen regelmäßig besuchen, werden zum Zentrum der Bekennenden Gemeinde, neben den großen Frauenhilfsgruppen und später neu ins Leben gerufenen Männerdiensten.

"Alle Gemeindeglieder, die auf eine biblische Schulung unter besonderer Beachtung der großen Fragen unserer Zeit Wert legen, sind herzlichst dazu eingeladen," lässt er abkündigen und stellt Woche für Woche jeden Abschnitt unter ein oft beziehungsreiches Thema. So formuliert der Ausleger während der kritischen Wochen um den Bußtag 1934 folgende Abschnittthemen zu 1. Kor.12-13: "Wo ist echte Kirche? Wer regiert die echte Kirche? Die Ordnung der echten Kirche. Die Ehre der echten Kirche. Deine Aufgabe in der echten Kirche. Irdische Pfuscherei." Die Auslegung des Johannesevangeliums stellt er unter das Leitwort "Der König", die des Hebräerbriefes unter das Thema "Das wandernde Gottesvolk." Die Aktualität des Themas "Die Abstammung des Christus", mit dem der Gemeindepastor Ostern 1940 die Auslegung des Matthäusevangeliums beginnt, wird in einem später zu behandelnden Zusammenhang deutlich werden. So arbeitet er noch Kapitel aus dem Propheten Amos, die Apostelgeschichte, den 2. Korintherbrief, die Offenbarung des Johannes durch und fängt zuletzt den Römerbrief an. In seinen Bibelauslegungen ist angelegt, was für sein späteres theologisches Arbeiten und Lehren kennzeichnend war: Bezugnehmen auf aktuelle Entwicklungen in Kirche, Gesellschaft und Politik sowie scharfes kritisches Beleuchten derselben aus theologischer Erkenntnis.

Ernst Käsemann hat nur einzelne seiner Predigten, die er auch im Blick auf mitschreibende Gestapomänner in aller Regel wörtlich niederschrieb, aufgehoben. So ist auch die zum Bußtag 1935 über Josua 7,13 erhalten. Zu diesem Zeitpunkt greift bereits auch der totalitäre Staat und die ihn beherrschende Nazipartei Christentum und Kirche mehr oder weniger offen an. Die Zerstörung der Kirche wird offensichtlich vorangetrieben. "Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens" ist das neue Stichwort, das im Presbyterium mit Sorge vernommen und als Beschränkung des Christseins auf die Kirche und das Privatleben als vom Neuen Testament her untragbar bezeichnet wird. Es war wieder eine Bußtagspredigt mit bemerkenswerten aktuellen Bezügen.

"Es gibt je und dann in der Geschichte des Reiches Gottes Zeiten, in welchen ewige Kraft aufbricht und Menschen wie Völker in ihren Grundfesten bewegt ... Aber ... glühende irdische Begeisterung oder menschlicher guter Wille steht an ihrem Anfang, auch nicht ein großer, nationaler Sieg oder ein bedeutender wirtschaftlicher Aufschwung. Nein, an ihrem Anfang steht ein Ruf zur Buße, der Gehör fand." Der Prediger weist hin auf das Auftreten Jesu in der Welt und seine Botschaft und weiter auf Luther, auf die erste seiner 95 Thesen:

"Unser Herr, Jesus Christus, der da sprich: Tut Buße wollte, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei." Als Beispiel dafür, wie sich Menschen gegen Umkehr aufbäumen, wenn sie aus ihrem eigenen Inneren heraus reden, zitiert er aus einer Rede, die Hitlers Organisationsleiter, Dr. Robert Ley, aus Anlass der Reichstagung der NS-Gemeinschaft "Kraft durch Freude" zuvor gehalten hatte.

"Wenn ich Buße tue, bin ich ein Knecht und bin minderwertig und das ist die Lehre für die Schwachen und für die Niedrigen und die Erbärmlichen. Der Sünde steht bei uns gegenüber die Disziplin und der Buße und der daraus erwachsenden Minderwertigkeit steht gegenüber der Stolz, und dem Schwachen steht gegenüber der Starke... Alle die das Leben verneinen, die die Sünde predigen und die Buße als höchsten Ausdruck sehen und den Klassenhass und den Dünkel auf ihrer Fahne haben, sie sind alle Marxisten."

"Diese Haltung unbeugsamen Stolzes als brüchig zu erweisen", sehe er in diesem Augenblick jedoch nicht als seine Aufgabe an. Der Prediger wendet sich vor allem der Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland während der letzten zwei Jahre zu, "einer Geschichte der Schande". Diese liege darin beschlossen, "dass Gottes Wort nicht mehr die volle Gewalt über uns besaß, als die Feinde des Kreuzes Christi gegen uns aufstanden". Darin liege ein "Bann auf uns allen, Pastoren und Gemeinden."

Käsemann nimmt in dieser Predigt in eigener unverwechselbarer Diktion auf, was Dietrich Bonhoeffer und andere Notbundpfarrer am 30. Juli 1935 in einem Rundschreiben "An unsere Brüder im Amt" angemahnt hatten: "Unser alter Adam will Halt haben auf der Erde statt mit seinem Herrn aus den Lagern dieser Welt getrost hinauszuschreiten in Niemandsland. Dieser Bann, dass Gottes Wort keine volle Gewalt mehr über uns besitzt, muss hinweg! Sonst kommen wir nimmermehr aus der Knechtschaft der Erde heraus zur unverzagten Freiheit und Furchtlosigkeit der Gotteskinder und die Kirche taugt nicht zum Dienst an der Welt, zu dem sie berufen ward." Es gelte aufs Neue umzukehren und den heiligen Geist "bei uns aufräumen und ihn über uns herrschen zu lassen. Er ist heute am Werk. Er hat noch nie Neues aufgerichtet, ohne zuvor radikal das Alte zu zerbrechen. Die Kirche wird nicht durch Ordnungen und Organisationen gebaut, sondern durch einzelne Menschen, die über ihre Schuld Leid tragen und sich ausstrecken nach der Vergebung aller Schuld in Jesus Christus. Der Bann muss hinweg, damit wir wieder Stehen lernen. Gott helfe uns dazu! Amen."

Es erscheinen Aussagen, die Käsemann sein Leben lang nicht müde wird zu wiederholen. Diese Predigt hat nun ein Nachspiel. Der Prediger wird verwarnt. Am Schluss seiner schriftlichen Aussage zu der gegen ihn am 3. Dezember 1935 erhobenen Anklage "bemerkt" er, "dass Dr. Leys Wort eine ungeheure Schmähung wichtiger Glaubenslehren der evangelischen Kirche und ihrer Glieder sowie eine Zerreißung der Volksgemeinschaft darstellt ... Wir fragen erschüttert, was positives Christentum in Punkt 24 des Parteiprogramms bedeutet, wenn ein Staatsmann öffentlich herabsetzen kann, was Millionen in Deutschland heilig ist."

Bei einer späteren Vorladung von der Gestapo bestätigte er noch einmal, dass er den Angriff des "theologisierenden Politikers" auf die biblische Bußlehre "pflichtgemäß" zurückgewiesen habe. Die Gemeinde beeindruckt die Predigt-Redequalität" ihres Pastors sowie sein Rufen zur Entscheidung. Seinen vielen Konfirmanden, die ihn als einen sehr strengen aber gerechten Mann in guter Erinnerung behalten haben, gab er gern das Lied: "Lass mich, oh Herr, in allen Dingen auf deinen Willen sehn und dir mich weihn,(...)" mit auf ihren Lebensweg. Es ist zu spüren wie Käsemann aus tiefster Überzeugung Klartext redet, wobei er die Sorge um sich selbst zurückzustellen vermag. Dabei unterstützt und bestärkt ihn seine Frau. Sie steht mit ihm die von ständiger Bespitzelung, Verleumdungen und ab 1936 sich stark häufenden Vorladungen durch die Gestapo begleiteten Jahre durch, hat ihren Teil am Kirchenkampf in der Gemeinde. Das totalitäre NS-Regime fühlte sich offenbar schon angegriffen, wenn klar die Herrschaft des gekreuzigten Christus laut wurde. Eben deshalb beobachtete die Gestapo Käsemann dauernd, drohte mit KZ-Haft. Er lässt sich dadurch nicht beirren, redet vielmehr immer freimütiger.

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Predigt im Bittgottesdienst am 15. August 1937, anschließend Verhaftung  

Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

Am 15. August 1937 hielt Ernst Käsemann in einem besonderen Bittgottesdienst eine Predigt über Jesaja 26,13 : "Herr, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns denn du; aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens." In solchen Bittgottesdiensten wurden trotz Verbot die Namen der verhafteten Mitglieder der BK verlesen und für sie Fürbitte gehalten. Käsemanns Predigt ist exemplarisch für seine deutliche Verkündigung. Außerdem wurde sie auch biographisch für ihn bedeutsam, über die unmittelbaren Folgen hinaus. Deswegen wird hier der ganze Wortlaut wiedergegeben:

"Viele Stimmen gehen heute durch die deutsche evangelische Christenheit, gehen auch durch unsere Gemeinde, Stimmen des Entsetzens, der Angst, der Empörung, des Trotzes, der Verzweiflung. Viele Stimmen sind auch bereits aus dem großen Chor ausgefallen. So mancher, der vordem einmal seinen Mund auftat, schweigt heute lieber als ein vorsichtiger Mensch. Mit allen solchen Stimmen haben wir es in dieser Stunde nicht zu tun. Deren gibt es bereits genug. Sie alle vermögen auch nicht zu helfen. Denn sie langen nicht über den Bannkreis dieser Welt hinaus. Was uns heute zu hören nottut, sind nicht die vielfachen Stimmen dieser Welt, sondern das ist die Stimme des göttlichen Volkes: Herr, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns denn du; aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens. Das ist die eine Stimme des göttlichen Volkes, das durch die Welt wandert. Es herrschen wohl andere Herren über uns denn du, dass Gott erbarm, wie viel Herren erheben Anspruch auf uns, fordern uns in ihren Dienst, zwingen uns gewaltsam in ihre Knechtschaft!

Gestern hieß es: Die evangelische Kirche ist nicht sozial genug. In Deutschland wirft man ihr vor, sie sei verjudet, in den osteuropäischen Ländern, sie sei zu deutsch, auf den Missionsfeldern, sie sei eine Sache der Europäer. Der möchte das Alte Testament aus Bibel streichen, jener den Apostel Paulus, wieder andere wollen, dass die Bibel überhaupt verschwindet. Der eine nennt Jesus einen arischen Helden, der nächste sieht in ihm einen Vorläufer des Bolschewismus. Jetzt sagt man uns: beschränkt euch auf die Predigt vom Himmelreich; dann heißt es wieder: welche irdischen Taten habt ihr denn vorzuweisen. Die Politik soll nicht auf die Kanzel gehören. Aber wenn politisierende Bischöfe die ganze Kirche in vollste Abhängigkeit vom Staat zu bringen versuchen, dann ist das recht. Es herrschen wohl andere Herren über uns denn du.

Wir merken es nicht nur, wenn wir um uns schauen. Wir merken es auch im Raume der selbst. Von Thüringen aus ist nicht (nur) die Stimme der Wittenbergischen Nachtigall durch unser Volk und darüber hinaus über die ganze Erde gedrungen. Von Thüringen aus dringt heute die Stimme eines neuen Evangeliums zu uns: Deutschland Gottes auserwähltes Volk, der Führer Gottes Bote in unserer Zeit, das Blut der Gefallenen des Weltkrieges vergleichbar dem Opferblut von Golgata. Parlamentarisch sei die Kirche nicht regiert worden. Aber wer regiert denn heute in ihr: staatliche Ausschüsse oder gemeindefremde Behörden mit einer papiernen Kirchenordnung, die überall längst durchlöchert ward, oder Bischöfe, die sich durch überrumpelung und Gewalt selber in ihre ämter setzten, oder eine fließende Masse, die jeden Tag hinter anderen Fahnen herläuft?

Es herrschen wohl andere Herren über uns denn du Gehört hierhin nicht auch unsere eigene Müdheit, unsere eigene Verzagtheit, unser Kleinglaube, unsere fleischliche Sehnsucht, nach Ruhe um jeden Preis? Wie oft höre ich Stimmen, die zu mir sagen: Warum gibst du uns nicht einfach etwas für unser Herz, statt uns immer wieder die großen allgemeinen Ereignisse aufzuregen, die wir doch nicht ändern können? O ja, so mag der Schlafende auch sprechen, wenn der Wächter ihn rüttelt und weckt, weil das Haus in Flammen steht. Frieden wollt ihr für euer Herz, aber nicht den Frieden, den Jesus gibt, sondern den Frieden, den Menschen euch mit allerlei süßer Schlummermedizin vorgaukeln. Frieden vor den Anklagen eures schlechten Gewissens, das die Wahrheit nicht hören und für die Wahrheit sich nicht einsetzen will. Ihr könnt solchen Frieden haben, aber einzig da, seit 1900 Jahren gefunden wird, unter dem Kreuze Jesu. Aber dieses Kreuz ist auch heute noch wie von einer dichten Wolke umlagert, von dem Schatten eines vermeintlichen Hochverräters, der von aller Welt abgelehnt wird, von den Frommen und von den Heiden, von den Mächtigen und den Massen, von den Juden und Römern, von den studierten Schriftgelehrten und den rohen Kriegsknechten. Ihr aber wollt Frieden mit dieser Welt und mischt euch deshalb lieber in die große Menge ringsum und tut es doch mit immer belasteteren Gewissen.

So aber bekennt die Christenheit unter dem Kreuz voll Freude und Frieden: Herr, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns denn du; aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens. Sie tut es, wo immer sie sich auf Erden befindet, unter allen Rassen und Nationen, in allen Ständen und Altersstufen und Betrieben, sie tut es auch im Gericht und Verfolgung, Verbannung und Gefängnis.

Sie tut es trotz aller ihrer menschlichen Schwäche, Sünde und ebrechlichkeit. Wir wissen selber nur bestens, dass es unter dem Kreuz keine Heiligen gibt, weil dieses Kreuz in der Welt steht, wo es überhaupt keine Heiligen gibt. Wer sich dort befindet, ist immer ein glühender Brandscheit und dem Feuer der Bosheit entrissen. Wir tragen alle unsere Flecken und Makel an unserem Leib und jeder kann sie erkennen. Der eine ist zu klug, der andere zu vorsichtig, der zu tollpatschig, jener zu dreist, der stand früher in diesem Lager, jener im anderen. Aber wer misst an der Front den Soldaten an seiner Größe, nach seinem Gewand, nach tausend anderen Dingen des bürgerlichen Lebens? Das Herz macht den Mann, nicht der weiße Stehkragen, nicht seine Bekleidung, nicht das Abzeichen an seinem Rock.

Die Etappe soll gefälligst den Mund halten, wenn es um die Front geht. Darüber urteilt der Feldherr allein. Und er hat uns gesagt: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! So jauchzt unser Herz wiederum ihm in Freude und Dankbarkeit entgegen: Aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens! Wir, die Mutlosen, wir, die erzagten, wir, die man von allen Seiten überwacht und bespitzelt, wir, die der Freiheit Beraubten, wir die Sterbenden. Aber wir sind doch nicht tot, wir sind doch nicht erstickt, wir sind doch nicht verlassen, wir sind in aller Trübsal doch fröhlich: Wir leben. Gerade durch unsere Gegner treibt der allmächtige Gott uns Schritt für Schritt immer mehr dort hin, wo man ihn anbetend bekennt: Aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens! Wir wollen uns in dieser Stunde nur an unsere eigenen, im Laufe der Zeit gemachten Erfahrungen erinnern. Wie ängstlich waren wir vor einigen Jahren noch, wie verzagt, wie überall nach Hilfe suchend, wie unsicher, wie befehlsbereit und zu jeder Mitarbeit willig. Wir meinten nur, als die ersten schwarzen Wolken sich über unseren Häuptern zusammen ballten, wir müssten mit den Wölfen heulen. Hätte man uns damals gesagt, was wir noch alles erleben würden, wir hätten wohl die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, uns in einen Winkel verkrochen und wahrlich alles über uns ergehen lassen.

Da aber trat Gott auf den Plan und leitete uns Schritt für Schritt immer tiefer in die Dunkelheit und lehrte uns im Glauben, der nicht schauen will, sichere Tritte vor unsere Füße setzen. Unsere Gegner waren durch die Fülle der Macht, die sie erobert hatten, wie von einem Taumel befallen. Nie hätten sie sich in ihren kühnsten Träumen je einfallen lassen, dass man das ganze äußere Gebäude der Kirche mit einem Schlage über den Haufen werfen könnte. Da wurden sie dumm und fingen an, die hohen Posten und Titel unter sich zu verteilen. Da wurden sie übermütig und meinten, sich über das einfachste Recht hinwegsetzen zu dürfen, da wurden sie wahnsinnig und wollten mehr haben, als überhaupt vorhanden war. Sie dachten wohl, nachdem sie die Kirche unter ihre Herrschaft gebracht hätten, müsse Gott seiner Kirche einfach folgen und sich gleichfalls ihnen beugen. Aber diese Rechnung war im tiefsten Grunde gottlos, weil ohne den ewigen Herrn des Himmels und der Erde gemacht. Er blies sie an, da stoben sie in alle Winde. Er erweckte über den Trümmern der sichtbaren Kirche die Herzen der unsichtbaren Kirche zu neuem Leben. Er setzte an die Stelle unserer eigenen Müdheit und unserer Verzagtheit seine Kraft und gab uns Mut und seinen Geist. So sind wir fröhlich und gehen ihm nach, wohin es ihm gefällt. Wir haben wieder gelernt, das Irdische nicht mehr so wichtig zu nehmen und ihn allein über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen.

Wer dem Staube entstammt, muss auch wieder dorthin zurückkehren. Gott allein bleibt und wer sich auf ihn verlässt. So kann man uns denn unsere ämter , unsere Habe, unsere Freiheit und unsere irdische Heimat nehmen. Das ist nur Staub. Mag der Teufel mit seiner Gefolgschaft das äußere Gefüge der Kirche ruhig noch mehr zerschlagen, wenn Gott es gestattet. Das ist nur Staub. Mag er uns selbst mit Haut und Haaren verschlingen, wenn er das vertragen kann. Auch das ist nur Staub! Wir jedoch bekennen dem allem und unserer eigenen Sünde zum Trotz: Aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens!

Und das ist nicht Staub. Das ist Geist von Gottes Geist und Leben in der Gewissheit der Auferstehung von den Toten. Das ist ein Stück von dem Felsen, auf dem die Kirche gegründet ward und welchen selbst die Pforten der Hölle nicht überwältigen werden. Gesegnet seien unsere Feinde! Denn sie lehren uns mit allem ihrem Toben immer mehr zu erkennen, was rechter Glaube, was wahrer Friede, was ewige Freude ist. Wir wollen mit ihnen nicht tauschen, was immer sie auch haben, glauben und leisten mögen. Es herrschen wohl andere Herren über uns denn du o ja, wir wissen es und spüren es alle Wege neu. Aber sie herrschen nur über irdischen Staub. Und das wissen sie selber auch ganz genau und das lässt sie rasen. Wir jedoch bekennen in Freude und Dank den ewigen Herrn und sprechen deswegen mit der ganzen Christenheit: Aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens!"

Er war nach dieser Predigt wie befreit, wird berichtet. Unter den etwa 250 Besuchern saßen, vom Sprecher der amtsenthobenen DC-Presbyter benachrichtigt, Gestapo-Beamte und schrieben eifrig mit. Solche Verkündigung und Proklamation, dass Gott allein uns total beanspruchen darf, war bereits Angriff auf den nationalsozialistischen, eine totale Herrschaft beanspruchenden Staat. So schlägt dieser auch zu. Am Mittwoch danach wird Käsemann wegen Vergehens gegen die Heimtückeverordnung verhaftet. Diese Verordnung stellte alle versteckten oder offenen Agitationen und Aktionen gegen die NS-Regierung unter Strafe, die bis zur Todesstrafe gehen konnte. Zur Bibelstunde kommen am Abend 600 Gemeindeglieder in großer Erregung. Die leitenden Gremien beschlossen, während der Haft nur mit einer Glocke zu läuten, sowie die Altarkerzen nicht anzünden zu lassen, was der Gestapo als Politisierung und gegen den Staat gerichtete Maßnahmen erschien.

Der Beschluss musste aufgehoben werden. Aber der Rotthauser Posaunenchor blies von dem dem Gerichtsgefängnis gegenüberstehenden Evangelischen Krankenhaus aus Choräle, um den Inhaftierten zu stärken. Presbyter erboten sich, in seinem Bezirk die Kranken zu besuchen. Am Sonntag nach der Verhaftung gingen viele Gottesdienstbesucher an den bis dahin noch kollektierenden ehemaligen DC-Presbytern vorbei, legten ihre Gaben auf den Altar oder in einen Korb in der Sakristei. Der Inhaftierte selber gab "in der Muße der Gefängniszelle" seiner Untersuchung zum Hebräerbrief unter dem Thema der zuvor gehaltenen Bibelarbeiten "Das wandernde Gottesvolk" die endgültige Fassung. "Indem ich Kirche als das neue Gottesvolk auf seiner Wanderschaft durch die Wüste, dem Anfänger und Vollender des Glaubens folgend, beschrieb, hatte ich natürlich jene radikale Bekennende Kirche vor Augen, die sich in Deutschland der Tyrannei widersetzte und die zur Geduld gerufen werden musste, um den Weg durch endlose Wüste fortsetzen zu können."

So schreibt er zurückblickend in seinem letzten als Testament für Freund wie Gegner herausgegebenen Buch "Kirchliche Konflikte". Am 9. September wird Käsemann wider Erwarten entlassen. Eine große Gemeinde begrüßt ihren Pastor in einem Dankgottesdienst. Das Verfahren gegen ihn wird später aufgrund eines Straffreiheitsgesetzes eingestellt. Dem DC-Presbyter, der ihn angezeigt hatte, schreibt Käsemann alsbald einen Brief und fordert nun die Herausgabe der Diakoniekasse, der letzten noch in Händen des "alten" Presbyteriums befindlichen Verwaltungssache. Sodann spricht er ihn seelsorgerlich an im Blick auf die gewiss einmal zu erwartende Ernüchterung um seine Person besorgt. Dieser antwortet, kündigt die Herausgabe des Geforderten an und rechtfertigt sein Verhalten.

Was er unter anderem schreibt, wirft ein höchst aufschlussreiches Licht sowohl auf Käsemanns Predigtarbeit als auch darauf, welches Echo diese bei einem der führenden Rotthauser Deutschen Christen auslöst. Er habe ihn wohl fünf- bis sechsmal der Gestapo gemeldet, weil er gegen den Staat hetze. "Dass ich als Parteimitglied dazu verpflichtet bin und dass ich dem Führer die Treue geschworen habe, wird Ihnen doch bekannt sein ... Die wenigen Predigten, die Sie hielten, ohne zu hetzen, haben nicht nur mir, sondern auch meinen Mitpresbytern Freude gemacht. Aber wie wenig Predigten waren es? Wie oft dagegen haben Sie Gotteswort und das Predigtamt missbraucht?

Ich erinnere an Ihre Predigtreihe im vorigen Jahr. Sie sagten einen Sonntag wiederholt: An dem Vater Abraham werdet ihr euch entscheiden müssen, es nützt euch nichts, wenn ihr sagt, wir haben Christum im Herzen! An einem anderen Sonntag schlugen Sie uns wieder das ganze Alte Testament um die Ohren und verlangten restlose Anerkennung desselben als "Wort Gottes" von uns und versperrten uns die Seligkeit damit. Da sagte ich mir: Das ist Irrlehre! So etwas predigen Sie wider besseres Wissen. Da Sie aber niemand hinderte, gingen Sie immer weiter. Bis zu dem bekannten Bittgottesdienst.

Die Gestapo war von mir benachrichtigt. Ich verstehe nicht, wie Sie das so wundern kann. Ich wäre als deutscher Christ und Nationalsozialist, besonders als Mitglied der Partei, ein Schuft, wenn ich ungerührt mir monatelang solche Predigten anhörte und zusähe, wie man ganz bewusst das Volk zum offenen Widerstand auffordert. Ich ließe mich totschlagen, wenn ich der überzeugung wäre, dass in Deutschland ein Pfarrer wegen Verkündigung des Evangeliums leiden müsste. Meines Erachtens bilden sich das die Pfarrer nur ein. Nur weil die Bekenntnispfarrer sich den Staat anders denken und wünschen, rennen sie dagegen an und müssen darum zur Ordnung gebracht werden ... Ich habe wohl auch an Ihre Familie gedacht, aber dem steht die Sicherheit und das Ansehen des Staates gegenüber, und der Staat ist unser gesamtes deutsches Volk ..."

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Bewährung im Widerstand  
gegen kirchenregimentlich - deutschchristlichen Angriff auf die Gemeinde

Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

Den schon erwähnten Angriffen von Seiten der Partei wie des Staates folgten zunehmend auch Einschränkungen der kirchlichen Arbeit. In Rotthausen versucht man sich zu wehren, protestiert gegen die 1935 staatlicherseits bestellten "Kirchenausschüsse", gegen die Beschlagnahme von Kollekten für die Arbeit der Bekennenden Kirche, gegen die Verbringung Martin Niemöllers ins Konzentrationslager, gegen das von Himmler 1937 ausgesprochene Verbot der Theologenausbildung durch die Bekennende Kirche, das Dietrich Bonhoeffer mit dem Finkenwalder Predigerseminar in Bedrängnis brachte. Mit Sorge und protestierend beobachtet Käsemann das Eindringen von DC-Leuten in die theologischen Fakultäten. Das Rotthauser Presbyterium kämpft 1938 für den Verbleib von Präses Koch in seinem Amt in Westfalen. Meist war Käsemann federführend.

Auf sein Betreiben solidarisieren sich 22 Pastoren des Kirchenkreises mit den Brüdern der zweiten Vorläufigen Kirchenleitung, die am 27. September 1938, während der Tschechenkrise, eine Friedensliturgie für die Gemeinden herausgegeben hatten. Prompt gerieten sie in ein Disziplinarverfahren mit folgendem Gehaltentzug. Zur Gebetsliturgie war im "Schwarzen Chorps", dem berüchtigten Blatt der SS zu lesen: "Solche Gebete sind politische Kundgebungen des Verrates und der Sabotage an der geschlossenen Einsatzbereitschaft des Volkes in ernster Stunde. Schluss damit! Die Sicherheit des Volkes macht die Ausmerzung dieser Verbrecher zur Pflicht des Staates."

1939 wird die ganze Gemeinde noch einmal in eine große Bewährungsprobe gestellt, als der älteste der drei Pfarrer nach fast 40-jähriger Dienstzeit in den Ruhestand tritt. Obwohl ein BK-Pastor, von Präses Koch zur Hilfe eingewiesen, in dessen Bezirk arbeitete, bestimmt die Finanzabteilung im Konsistorium in Münster einen Vertreter der radikalen "DC Nationalkirchliche Einung" zum Nachfolger im II. Bezirk, was einmal mehr den Ausschlag gebenden Einfluss der DC in den kirchlichen Behörden beweist, mit denen die Rotthauser sich jetzt auseinandersetzen müssen. Dieser Pastor hatte bereits vorher in Versammlungen und mit seinen Verteilblättern, unterstützt von den noch immer kaum 2% erreichenden Deutschen Christen in Rotthausen, agitiert.

In der im Frühjahr 1939 auch außenpolitisch schon äußerst kritischen Lage gibt Käsemann in einer Versammlung der Bekenntnisgemeinde eine Positionsbestimmung und kämpft zugleich leidenschaftlich gegen die zu der Zeit zu beobachtenden Ermüdungserscheinungen. Die ganze Rede ist ein bewegendes Zeitdokument und soll hier deswegen zu einem wesentlichen Teil zitiert werden. Sie gibt Einblick in das Ringen des entschiedenen Pastors um den Glaubensweg seiner Gemeinde. Dabei schont er seine Hörer nicht. Schon vor einer im Frühjahr 1937 von Hitler angeordneten, dann aber doch nicht durchgeführten Kirchenwahl, hatte er die Gemeinde zur Entscheidung aufgerufen. Unwillkürlich denkt man an die Situation des Hebräerbriefes.

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Positionsbestimmung im April 1939

Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

In seinem "Überblick über die augenblickliche Lage in der Kirchengemeinde", gegeben am 23. April 1939, dem Sonntag vom guten Hirten, stellt Käsemann zu Beginn die Frage: "Wo stehst du im Kampf und Not der Herde Christi? Bei denen, die als sein Eigentum gelten und verbleiben wollen, oder bei den Mietlingen, die nur des eigenen Vorteils Willen den Anspruch auf die Leitung der Herde Christi erheben und in der Gefahr die Herde den Wölfen preisgeben? Die gleiche Frage stellt heute unsere kirchliche Lage unüberhörbar."

Es folgt ein ausführlicher Rückblick auf die oben bereits geschilderten Ereignisse und Entscheidungen in der Rotthauser Gemeinde seit 1933. Sodann geht er auf die Kämpfe und Angriffe ein, die sich im Raum der Deutschen Evangelischen Kirche während dieser Jahre abgespielt und die Gemeinde nicht unberührt gelassen hatten. Doch "wie an einem eisernen Block scheiterten alle Angriffe an der Tatsache, dass die Gemeinde sich fast völlig mit ihren Pfarrern solidarisch erklärte." Da setzte mit dem vorigen Jahre die dritte Etappe ein. Zwei Geschehnisse wurden für uns von größter Bedeutung. Einmal hatte die DC in der nationalkirchlichen Einigung der Thüringer einen neuen Mittelpunkt erhalten und neue antreibende Kräfte gesammelt, auch in Rotthausen. Es konnte ja nicht ausbleiben; wenn die DC hier ihren Kampf überhaupt weiterführen wollte, musste sie sich radikalisieren. Die Anführer und Bischöfe, denen sie sich einst zur Verfügung gestellt hatte, waren kläglich gescheitert und schimpflich von der Oberfläche verschwunden.

Die Ordnung, der man zu dienen vorgab, war als gröbste Unordnung und Zerstörung erwiesen. Die Treue gegen Bibel und Bekenntnis, deren Bestreitung man so empört zurückwies, war vor den eigenen Anhängern, an vielen Punkten wie zum Beispiel in der Frage des Alten Testaments nicht mehr zu verteidigen, die Kirchlichkeit trat durch den Kirchenaustritt rund eines Viertels aller DC-Vertreter vor jedermann klar heraus; die Macht war wie Schnee in der Sonne geschmolzen.

Eine kleinste Gruppe, die gegen kirchlichen Parlamentarismus und Pastoren-Herrschaft zu streiten vorgab, terrorisierte eine ganze Gemeinde in der Weise, wie sie in den schlimmsten parlamentarischen Zeiten unerhört gewesen war. Wollte man das alles rechtfertigen, dann musste man die kirchlichen Schranken ganz verlassen und sich total einer radikalen politischen Haltung in die Arme werfen. Nur radikal politische Ziele konnten ein Festhalten am eingeschlagenen Kurs trotz aller Fehlschläge, trotz aller Ablehnungen durch die Gemeinde wenigstens einigermaßen verständlich werden lassen. Nur politische Ziele konnten Aussicht auf einen Endsieg geben. Zudem: wo man einen Schritt vom Wege gewichen ist, den Bibel und Bekenntnis weisen, wird man zwangsläufig immer weiter davon abgetrieben.

Das Gesetz, nach dem man antrat, bestimmt die künftige Entwicklung, die nun unter dem Namen Nationalkirche steht. Und was Nationalkirche heißt, das wissen wir ja: Nicht nur Ablehnung des Alten Testaments und Streichung alles vermeintlichen jüdischen Geistes in der Bibel, Gesangbuch und Kirche, nicht nur Arierparagraph, also Aufhebung der Taufgnade und des Missionsbefehls, nicht nur Preisgabe der kirchlichen Selbständigkeit, in der etwas von der Herrschaft Christi über seinen Leib zum Ausdruck kommt, nicht nur Ersetzung der Einheit des christlichen Glaubens und der evangelischen Lehre durch Zwangsdisziplin, sondern darüber hinaus Verwerfung Christi, als des einen Heilandes, Verwerfung seines Todes als der einen Grundlage unserer Erlösung, Verwerfung seiner Herrschaft zugunsten irdischer Gewalten und Weltanschauungen.

Das zweite Moment, was im vorigen Jahr unsere Gemeindeverhältnisse in ein neues Stadium treten ließ, war die Erkrankung Pastor Rüters ... Das bedeutet, dass er um seine Pensionierung bitten muss, was er inzwischen zum 1. Oktober getan hat. Vom Herbst ab wird also die Frage um seine Nachfolgerschaft brennend. Wir haben uns bisher damit beholfen, dass wir uns von der Bekenntniskirche Pastor Schunke als Hilfsprediger entsenden ließen. Seine Tätigkeit in unserer Gemeinde vom 1. Juni 1938 an hat ihm das Vertrauen seines Bezirks geschenkt, wie die diesjährigen Konfirmandenaufnahmen beweisen.

Trotz stärkerer Propaganda der DC, die alle in Frage kommenden Eltern bearbeitete, während wir dem fast nichts entgegensetzten, hat Pastor Schunke mehr Katechumenen in seinen Unterricht aufnehmen können als Pastor Rüter im Vorjahr. Die Bekennende Gemeinde hat auch durch ihre Opfer den Willen zur Aufrechterhaltung des jetzigen Zustandes dargetan. Wird Pastor Schunke doch zur Hälfte von den Mitteln der Bekenntnisgemeinde getragen, während die Bekenntniskirche die andere Hälfte gibt. Aus den Steuermitteln der Gemeinde oder des Konsistoriums fließt ihm dagegen kein Pfennig zu. Trotzdem müssen wir in der Frage der Neubesetzung der zweiten Pfarrstelle auf äußersten Kampf gefasst sein. Die DC proklamierte ja schon seit langem ihr Recht auf eine Pfarrstelle in Rotthausen. Die kirchlichen Verordnungen zum Schutz der Minderheit sprechen ihr dieses Recht ausdrücklich zu, ganz gleichgültig, ob es sich dabei um eine Minderheit von drei Leuten oder von 5000 handelt.

So hat man im Blick darauf bereits einen DC-Pastor aus Thüringen nach Rotthausen importiert. Ganz offen tut man so, als sei das Konsistorium bereits Bindungen hinsichtlich seiner Person eingegangen. Mit welcher Dreistigkeit man auf die Durchsetzung seiner Gewalt bedacht ist, zeigt die zu Palmsonntag (1939) vorgenommene Konfirmation von fünf Rotthauser und sieben Gelsenkirchener DC-Konfirmanden. Der kirchliche Unterricht dieser Kinder war völlig fraglich, zum Teil jedenfalls durch einen aus der Kirche ausgetretenen Lehrer erteilt. Bei den Kindern handelte es sich teilweise um solche, die von uns aus sachlichen Gründen z.B. Faulheit oder längeres unentschuldigtes Fehlen, vom Unterricht ausgeschlossen waren.

Das Konsistorium hat alle unsere Beanstandungen übergangen und die Rotthauser Kirche für die Konfirmationsfeier freigegeben. Als wir sie verschlossen hielten und auch die Polizei nicht eingriff, hat man vor rund 150 versammelten Gemeindegliedern sich mit Hilfe eines Nachschlüssels der Kirche bemächtigt, ohne dass wir unser Hausrecht geltend machen konnten. Das sind die Schatten, die der kommende Kampf vorauswirft. Die Bedeutung des Augenblicks ist klar.

Ein DC-Pastor in Rotthausen mit allen Rechten eingesetzt, bedeutet eine offene Bresche in die bisherige Geschlossenheit der Gemeinde. Von gelegentlichen übergriffen und besonders von den Angriffen auf die Pfarrer abgesehen, haben wir uns ja einbilden können, seit vier Jahren eine intakte Gemeinde zu sein. Die Pastoren waren gleichsam das Bollwerk vor der Gemeinde, gegen das man bisher ergebnislos anrannte und hinter dem die Gemeinde verhältnismäßig ruhig leben konnte. Jetzt aber geht es zunächst gar nicht so sehr gegen die Pastoren, sondern unmittelbar und umfassend um die ganze Gemeinde. Nicht nur der zweite Pfarrbezirk wäre dem Thüringer überliefert, sondern die ganze Gemeinde würde dauernd sein Wirken zu spüren bekommen. Als Praeses würde er in absehbarer Zeit ihre Verwaltung in seine Hände nehmen, über ihre Räume nach Gutdünken verfügen, die Ordnung der Gottesdienste, die Rechte ihrer Vereine, die Mitbestimmung über ihre Gelder regeln. Er würde aus unseren Steuergeldern unterhalten. Pastor Schunkes Existenz wäre aufs Schwerste bedroht. Ein weiterer Stützpunkt für die DC in der Gemeinde wäre gewonnen. Das verjagte DC-Presbyterium könnte seine Arbeit wieder aufnehmen. Alle Errungenschaften unseres fünfjährigen Kampfes wären verloren. Und das alles um einer kleinen Gruppe willen, die weder kirchlich genannt werden noch rein zahlenmäßig irgendwelche Bedeutung ihr eigen nennen kann.

Das alte DC-Presbyterium, ergänzt durch eine Reihe von Ausgetretenen und solchen Familien, die rein um ihrer politischen Anschauung willen oder aus Hass gegen die Pastoren sich dahinter stellen, das ist die ganze Rotthauser Bewegung. Wir sind ja bereit, ihnen eine Pfarrstelle zuzubilligen. Aber sie mögen dann beweisen, dass sie wirklich Minderheit sind. Ein Zehntel eines Bezirkes 500 Leute mehr wollen wir gar nicht sehen, um ihnen den Platz zu räumen. Ein Zehntel der Rotthauser Konfirmanden, 30 Kinder, würde uns genügen. Ein Hilfsprediger, den sie ein Jahr lang aus eigenen Mitteln unterhielten! Aber das können sie ja nicht. Sie sind ja nur kirchliche Piraten, welche die Unordnung der Kirche, die sie geschaffen haben, ausbeuten, die politische Gunst ausnutzen und eine dem Wesen der Kirche hohnsprechende Gesetzgebung der Kirchenbehörde ausnutzen, um die Gemeinde zu vergewaltigen.

Vermag denn die Gemeinde etwas auszurichten? Jawohl, sie vermag das. 1000 Erwachsene von ihren Gliedern brauchen bloß zum wirklichen Einsatz bereit zu sein. Und sie werden eine Mauer bilden, die sich nicht durchbrechen lässt. Mit 1000 erwachsenen Gemeindegliedern werden wir die Behörden von unserem Recht überzeugen oder den DC-Pastor mit einem luftleeren Raum umgeben. Sind die da? Das ist die Frage dieses Sommers für unsere Gemeinde. Unsere wirkliche Not ist in Wahrheit nicht der Druck von außen, sondern die Müdigkeit von innen. Man nennt zwar unsere Gottesdienste im Verhältnis zu unseren Nachbargemeinden gut besucht, aber wie lässt sich da ein Schwinden der Gemeinde feststellen. Unsere Bibelstunden zählen längst nicht mehr 300 Besucher, sondern nicht einmal die Hälfte mehr.

Ähnlich ist es um die Männerdienste bestellt. 1700 Personen haben eine rote Karte, aber ein Drittel davon zum mindesten verdient sie nicht, weil sie nicht am kirchlichen Leben regelmäßig teilnehmen. Ein großer Teil davon murrt sogar über die 10 Pfennig monatlichen Beitrag. Wir werden hier säubern und ausscheiden. Die Namen allein sind nichts wert, nicht einmal das Geld ist es. Hier geht es um alles. So gilt es denn auch ganzen Einsatz. Wird die Gemeinde begreifen, dass sie selber auf dem Spiel steht? Die Pastoren werden es diesmal nicht schaffen. Die Pastoren haben gezeigt, dass sie um ihrer Gemeinde willen zu leiden, zu opfern, alles dranzusetzen bereit sind. Wir werden unsere Hände waschen, wird die Gemeinde nicht wach und ihr zurufen: Ihr habt nichts anderes verdient. Wer nicht leben will, mag sterben. Wer nicht kämpfen will, soll unterliegen. Wer nichts einsetzt, ist nichts wert.

Alles oder nichts, das gilt heute euch allen. Werdet ihr es hören? Vom Gleichnis des guten Hirten sind wir ausgegangen. Die gute Hirtenhand hält nur, die seinen Namen kennen und ihm folgen. Wer dazu zu faul oder zu ängstlich ist, verfällt den Mietlingen oder den Wölfen. Die Hand des guten Hirten hält man nicht mit frommem Geschwätz hinter verschlossenen Türen oder mit der Einbildung: Unseren Glauben kann uns niemand rauben. Damit verliert man sie, opfert man seine Kinder, verlässt die Gemeinschaft des Leibes Christi. Bekennende Gemeinschaft, es gilt nun wirklich zu bekennen, wo wir stehen, wer Herr über uns sein soll, wessen Stimme wir hören wollen. Seid ihr das,Bekennende Gemeinde, wollt ihr das in den nächsten Monaten bezeugen. Dann brauchen wir uns nicht zu fürchten. Es ist keiner da, der spricht von seiner Herde, die ihm folgt und seine Stimme hört: "Niemand wird sie aus meiner Hand reißen." Der wird es tun. Konsequenz: Praktizierung des "allgemeinen Priestertums aller Gläubigen".

Die Gemeinde hatte gehört und begriffen. Sie rückte näher zusammen und setzte sich unermüdlich für ihre Sache ein mit 1600 Unterschriften allein aus dem betroffenen Bezirk, dazu 14 schriftlichen Eingaben von den Leitungsgremien, Gemeindegruppen und Gebetsvereinen. Mehrfach entsandte Delegationen vertraten so frei und mutig die Ablehnung des "Irrlehrers", dass man im Konsistorium und im Evangelischen Oberkirchenrat in Verlegenheit geriet ob dem unerschrockenen und penetranten Auftreten der abgesandten Gemeindeglieder. Sie warteten einfach vor den Türen, bis die entscheidenden Herren herauskamen. Die Rotthauser setzten auch durch, dass der Schriftverkehr mit der Behörde in Münster außer in Sachen Finanzverwaltung unter Umgehung des Gelsenkirchener DC-Superintendenten über den Vertrauensmann der Bekenntnissynode und, als das während der gerade geschilderten Aktion untersagt wurde, sogar direkt abgewickelt werden durfte.

Ergebnis: Der Evangelische Oberkirchenrat in Berlin will während des Krieges keine Entscheidung über die Wiederbesetzung der vakanten Pfarrstelle treffen. Damit hatte die Gemeinde im Grunde gewonnen. Auch der BK-Pastor Schunke darf bleiben. Er wird nach dem Krieg Nachfolger von Pfarrer Rüter. Nimmt man zu dem, was bisher zu berichten war, hinzu, was im Krieg an Einsatz von Gemeindegliedern zur Unterrichtung mehrerer stark besuchter Christenlehregruppen geleistet wurde, um den mangelhaften Religionsunterricht in den Schulen aufzufangen, denkt man an die Lesegottesdienste, die drei Bergleute und ein Schmiedemeister als Presbyter beziehungsweise Gemeindeverordnete gehalten haben, nachdem die Pastoren Schunke und Lic. Käsemann zum Wehrdienst eingezogen waren sowie an die masurischen Laienprediger, so wird klar, dass hier Priestertum aller Gläubigen erfahren, praktiziert und geübt worden ist. Ohne dies wäre das alles gar nicht möglich gewesen.

Einiges davon wirkte in der Nachkriegszeit weiter. "Wir hatten einen Kreis von Mitarbeitern, die jederzeit gerufen werden konnten und in zwei Stunden, wenn nötig, die Gemeinde mobilisierten. Bruderschaft in der Nachfolge und im gemeinsamen Kampf trug uns," so schrieb Ernst Käsemann noch vor wenigen Jahren nach Rotthausen und nennt dabei eine längere Reihe von Männern und Frauen dankbar mit Namen.

Freilich zur Realisierung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen hätte auch der Protest gegen das große Unrecht des NS-Regimes gehört: Protest gegen die Verletzung der Menschenrechte, die "Euthanasie", die Ausrottung der Juden. Diesen Protest im politischen Raum gab es nicht. Ob wenigstens einiges hätte verhindert werden können, wenn 1934 viel mehr Gemeinden konsequent den Dahlemer Beschlüssen gefolgt, eine tiefer und weiter greifende Erneuerung nicht aus mannigfachen Gründen, durch lähmende Differenzen blockiert worden wäre? In jenen Jahren der Naziherrschaft wurde allerdings in Verlautbarungen der BK betont, dass der Kirchenkampf "für das Existenzrecht der Kirche, nicht aber als politischer Widerstand gegen den NS-Staat geführt werde." Auch Karl Barth hatte sich 1937 gegen eine politische Interpretation des deutschen Kirchenkampfes gewandt, was er dann 1963 bedauerte, nämlich dass es von Barmen aus, "nicht zu einem ernsten, auch nur inneren Widerstand des Christenvolkes und Theologenvolkes gegen das herrschende System gekommen" ist.

Dietrich Bonhoeffer ist einsam den Weg gegangen wie auch noch wenige andere. Käsemann selber schreibt später und bekennt: "Offensichtlich war unser Widerstand in der Nazizeit nur halbherzig. Wir haben das Evangelium und kirchliche Ordnungen verteidigt, sind jedoch durchweg nicht in den politischen Untergrund gegangen, wie die Mitmenschlichkeit es vielfach gebot." Und "lernen musste ich ... dass weltbezogene Theologie eine politische Dimension hat, ob das einem gefällt oder nicht. Kein Bereich des Lebens wird vom Evangelium ausgespart, haben wir in Barmen einst gesagt." Daraus zog er für sich in der Nachkriegszeit die Konsequenz.

Betraut mit übergemeindlichen Aufgaben: Konsequent und kompromisslos auf der Linie der Dahlemer Beschlüsse bis hin zum Ausscheiden aus der westfälischen Bekenntnissynode Käsemann hatte Anfang 1934 entschieden Position gegen die Deutschen Christen bezogen und blieb dann konsequent auf der Linie der Dahlemer Beschlüsse. Unter den 31 Pfarrern, die sich in Gelsenkirchen zur Bekennenden Kirche hielten, neben zehn DC und "Neutralen" gehörte er zu den wenigen, die dem Preußischen Bruderrat verbunden blieben und sich der westfälischen "Renitenz" zugehörig fühlten.

Diese Gruppe der "radikalen" Bekenntnispfarrer, später auch "Dahlemiten" genannt, traf sich im Pfarrhaus Käsemann, der offenbar ihr theologischer Kopf und Sprecher war. Als oppositionelle Minderheit hatten sie in ihrer Kompromisslosigkeit, im Bewusstsein "die rechte Kirche" zu vertreten, in strikter Abgrenzung von den DC Bonhoeffer ähnlich und durch Dahlem bestärkt, durchaus einen schweren Stand. Auf den Bekenntnissynoden oft überstimmt und zum Teil heftig angegriffen, machten diese Männer bittere Erfahrungen. Andererseits konnte Käsemann sehr hart von den anderen Brüdern fordern, wofür er sich selber ganz einsetzte. Er konnte leidenschaftlich, ja manchmal schroff werden. Bei aller Entschiedenheit in der Sache bemühte sich diese Gruppe dennoch so weit wie möglich um Erhalt der Bruderschaft im Kirchenkreis. Der Kreis der radikalen Oppositionellen widersetzt sich folgerichtig dem Vorhaben, nach dem Vorschlag von Präses Koch, den Kreissynodalvorstand dadurch zu "legalisieren", dass er aus Vertretern der BK sowie der DC gebildet würde. Das Rotthauser Presbyterium hatte unter Hinweis auf "unseren alten, durch Dahlem bestimmten Weg" einmütig dagegen votiert, wie man auch schon vorher ein angeblich "ordnungsgemäßes" Presbyterium mit BK- und DC-Zusammensetzung abgelehnt hatte.

Während der Verhandlungen über solche Kompromisslösungen hat Käsemann zum 1. Dezember 1940 sein Ausscheiden aus der westfälischen Bekenntnissynode erklärt. "Ich lehne allein die Bindung an die Disziplin einer BK ab, die ich nicht mehr als die BK anzusprechen vermag, in die ich mich einst eingereiht habe", schreibt er in einem langen Brief an den Gelsenkirchener Vertrauenspfarrer. "Die BK-Synode, die sich zu einem Kompromiss mit der DC entschlossen hat, ist für mich eine kirchenpolitische Organisation geworden, der ich meine persönliche Freiheit nicht ausgeliefert wissen möchte." Mit diesem Schritt hat er sich von der Führung der BK in Westfalen gelöst, keineswegs aber von der Bekennenden Kirche als solcher, für deren Sache er nach wie vor mit aller Kraft eintrat.

1942/43 ist Käsemann zur Mitarbeit in der von Professor Julius Schniewind, Halle, geleiteten Kommission zur Erarbeitung eines Memorandums zur Vikarinnenfrage berufen worden. Das Memorandum sollte der Elften Synode der Bekennenden Kirche vorgelegt werden. Seinen Hauptbeitrag dazu leistete er mit der Untersuchung: "Der Dienst der Frau an der Wortverkündigung nach dem Neuen Testament." Die Kommission einigte sich schließlich auf die öffentliche Verkündigung durch Frauen, allerdings nur als "Vikarinnen" ordiniert. Und diese sollten vor allem zur Versorgung der Gemeinden beitragen, deren Pfarrer zum Wehrdienst eingezogen worden waren. Von Pastorinnen bzw. Pfarrerinnen war damals noch nicht die Rede. Zu weiteren speziellen theologischen Arbeiten über die schon genannten hinaus ist der Pastor der großen Gemeinde nur noch selten gekommen. Um einige Rezensionen war er gebeten worden sowie um einen Vortrag über "Das Abendmahl im Neuen Testament." Auch der Aufsatz "Die Legitimität des Apostels. Eine Untersuchung zu II. Korinther 10-13" ist noch in Rotthausen entstanden.

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Mitarbeit an der Erneuerung der Kirchenordnung nach Kriegsende

Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

Mitgearbeitet hat er an Entwürfen zu einer neuen Kirchenordnung zunächst schon zwischen 1941 und 1943 bei einer westfälischen Kommission. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft bat Präses Koch ihn, wieder mitzutun. Die neue Kirchenleitung berief ihn alsbald in den Ausschuss für die Kirchenordnung, dem der Auftrag erteilt worden war, eine Vorlage an die westfälische Provinzialsynode zur Erneuerung der Kirchenordnung zu erarbeiten. In diesem Gremium konnte er zusammen mit seinen Freunden, Hans Joachim Iwand und Superintendent Fritz Heuner, Dortmund, in schwierigem Ringen eine von Ostwestfalen aus angestrebte hochkirchliche Verfassung mit Bischofsamt abwehren. Letztere sahen diese Männer als unvereinbar an mit den Erfahrungen aus dem gerade durchgestandenen Kirchenkampf sowohl wie auch mit der presbyterial-synodalen Ordnung. Käsemanns letztes Engagement in der Kreissynode Gelsenkirchen, von der er sich jetzt auch wieder als theologischer Abgeordneter in die Provinzialsynode hat wählen lassen, galt der Durchsetzung einer neuen Presbyterwahlordnung für die im Entstehen begriffene westfälische Landeskirche im Frühjahr 1946. Im Kirchenordnungsausschuss hatte er gerade an dieser stark umkämpften neuen Wahlordnung mitgearbeitet. Sie schränkte aufgrund der Erfahrungen des Kirchenkampfes das Wahlrecht auf die sich am kirchlichen Leben beteiligende gottesdienstliche Gemeinde ein. Käsemann war wieder in seinem Element.

Das Protokoll der Kreissynode hat wesentliche Sätze seines authentisch, leidenschaftlich um die Annahme werbenden Einführungsreferates festgehalten. "Das neue Wahlgesetz steht und fällt mit dem Satz: Das aktive Wahlrecht soll besitzen allein die um Gottes Wort und Sakrament versammelte Gemeinde. Es ist zwischen der damaligen Provinzialsynode und heute vieles anders geworden: Es ist 1) eine Scheidung erfolgt ähnlich der Scheidung der Geister in der Reformationszeit. Es wurde 2) erfahren, dass die Kraft des hl. Geistes sammelt und lebendig macht. 3) wurde deutlich, dass die Leitung der Kirche allein von dieser neu gesammelten Gemeinde aus geordnet werden dürfen. Alle diese Gottesgaben dürfen nicht totes Kapital bleiben, sondern schließen Aufgaben in sich. Die geistliche Erfahrung muss Wegweisung für die Zukunft werden. Nur von der Bekennenden Kirche her ist dieses Wahlgesetz verständlich. Die Kirche lebt nicht von Ordnungen und Paragraphen, sie sind ein Schutzwall vor den stürmenden Feinden. Für wahrhaft kirchliche Gesetze ist es kennzeichnend, dass sie zur Verantwortung rufen und nicht stur kommandieren.

Der Vorwurf: Das Gesetz treibe zur Heuchelei, zum Richtenwollen, zur Inquisition wird zurückgewiesen; desgleichen der Vorwurf der überforderung der gegenwärtigen Generation. Menschen müssen vor die Entscheidung gestellt werden. Im übrigen überfordert Gott uns stets, aber nicht, ohne zuvor gegeben zu haben. Wir, die wir vom Wunder Gottes 12 Jahre gelebt haben, sollten zugerüstet sein, jetzt neu Kirchenzucht auszuüben. Heute dürfen wir noch neu anfangen und das heißt: Buße tun, ohne Rücksicht auf die Unbelehrbaren, wohl aber im Geheimnis des Gehorsams gegen Gott. Es gehört ein großer Mut dazu für die Presbyterien, die Verantwortung auf sich zu nehmen. Die Prüfung der Geister kann nur von dem ausgeübt werden, der selber sich hat prüfen und führen lassen. Wir legen ein Zeugnis für die Wahrheit Gottes ab, die allein unter und mit dem Wort und Sakrament selig macht."

Nach langer Diskussion auf zwei Tagungen stimmt die Synode dem Gesetz in der vorgelegten Fassung mit großer Mehrheit zu. Während der Debatte wurde unter anderem gefragt: "Wollen wir noch Volkskirche?... Wollen wir zur Bekenntniskirche ja sagen?" Damit war eine Alternative aufgezeigt, die sich nach dem Kirchenkampf ergeben hatte aber wohl kaum ernsthaft in Betracht gezogen wurde. Umso mehr rührte sie an einen Hauptnerv des Denkens und Bemühens von Ernst Käsemann. Das von ihm oft und gern gebrauchte Wort "radikal", "radikale Bekennende Kirche" zielte schon in Rotthausen im tieferen Sinn und Konsequenz auf eine überwindung der traditionellen Volkskirche durch eine neue Kirche mit bruderschaftlichen Organisationsformen. Sehr enttäuscht blickte er nach dem Krieg auf die sich seit der Kirchenkonferenz von Treysa begebende Entwicklung zur Restauration. Die Beschäftigung mit diesem Problem zieht sich fortan wie ein roter Faden durch seine theologische Forschung, Lehr- und Vortragstätigkeit. Zum Ende hin und seiner ursprünglichen Intention treu bleibend ruft er einmal aus:

"So sei in Protest und Widerstand gegen den Status quo das allgemeine Priestertum als heute unverzichtbare Form des überlebens postuliert, wo Christenheit sich vom Idol einer Volkskirche abwendet und die Realität einer Minorität entschlossen akzeptiert." In diesem Satz liegt etwas Prophetisches.

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Ausblick auf den weiteren Weg als Professor für Neues Testament und weltweit Wirken

Ernst Käsemann, Pastor der Bekennenden Kirche in Gelsenkirchen-Rotthausen 1933-1946

Nach der Berufung an die Theologische Fakultät der Universität Mainz schreibt Ernst Käsemann in einem Abschiedsbrief an seine Gemeinde: Dieser Ruf "legt mir eine größere Verantwortung auf und verlangt von mir bedeutsameren Dienst ... Das Scheiden fällt mir schwer, nachdem dreizehn Jahre der Arbeit, des Kampfes und des Segens uns zutiefst verbunden hat ... Diese Jahre sind für mein inneres und äußeres Leben von entscheidender Bedeutung geworden. Wie ich für unendlich viel erfahrene Liebe und Treue zu danken habe, so wird meine Fürbitte der Gemeinde weiterhin gehören."


Völlig unvorbereitet aufs Katheder gerufen, bleibt er unter äußerlich schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit arbeitend in Mainz, bis ihn Hans Joachim Iwand 1952 nach Göttingen holt. 1959 folgt er einem Ruf an die Universität Tübingen. Dort wirkt er bis zu seiner Emeritierung 1971. Seine Vortragstätigkeit, die ihn durch Deutschland und weit darüber hinaus fast in alle Erdteile führt, setzt er allerdings bis in sein hohes Alter fort. Sie verstärkt sich sogar zeitweise derart, dass von einer dritten Dienstphase gesprochen werden kann. Immer wieder wird er gebeten, auf Kirchentagen sowie auf Tagungen und Konferenzen des ökumenischen Rates der Kirchen Referate, Bibelarbeiten, Predigten zu übernehmen.

Von der Universität hat er sich dann allerdings weithin zurückgezogen. Es kennzeichnet diesen Mann, dass er bis zuletzt noch unter körperlich bedingten großen Mühen mitdachte, auch ihm zugesandte Bücher und Aufsätze las, sie kritisch würdigte. Er wusste sich mit seinen Gaben und Kräften, sich auch seiner Grenzen bewusst, mit der ihm gegebenen Zeit einfach in Pflicht genommen.

Am 17. Februar 1998 stirbt Ernst Käsemann im 92. Lebensjahr. Auf seinem Schreibtisch lagen Gedankennotizen über seine zuletzt besonders beharrlich, ja einseitig vertretenen Grundanliegen als Fragmente. Er hatte sie zur Vorbereitung eines noch im 90. Lebensjahr geplanten Vortrages in Prag zu Papier gebracht. Der dortigen Evangelisch-Theologischen Fakultät hatte er zuvor den umfangreichen theologischen Teil seiner Bibliothek geschenkt. Seinen mit der Berufung an die Universität beginnenden zweiten Lebensabschnitt der historisch-kritischen Forschung und Lehre sah der Professor "in Kontinuität zu dem, was wir 1933-1945 getan haben." Dieser in seinem Werk vielfach erkennbaren Kontinuität und exegetischen Untermauerung,z. B. in seinem Aufsatz "Amt und Gemeinde im Neuen Testament" zur Erfahrung und Betonung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen nachzugehen, fehlt im Rahmen dieses Beitrages der Raum.

übrigens hatte schon der junge Pastor in seiner Gemeinde Differenzierung der Dienste nach vorhandenen Gaben im Sinn gehabt. In präziser exegetischer Arbeit, streng und konsequent wissenschaftlich denkend, hörte er die biblischen Texte genau und unermüdlich fragend ab. Dabei scheute er sich nicht, das Element eigener lebendiger Frömmigkeit zur Geltung kommen zu lassen. So förderte er Erkenntnisse zu Tage, die weltweit über Konfessionsgrenzen hinweg bis heute wirken. Seine Studenten, denen er viel abverlangte, leitete er zu historischer und hermeneutischer Wahrhaftigkeit an.

Mit der Veröffentlichung seiner "Exegetischen Versuche und Besinnungen", in Diskussion und kritischer Auseinandersetzung mit seinen Kollegen, besonders mit seinem Lehrer Bultmann, brachte er das Gespräch zu theologischen Hauptproblemen voran, indem er Korrekturen und neue Anstöße lieferte. So leitete sein Aufsatz über das "Problem des historischen Jesus" eine "Wende" in der Bemühung um den historischen Jesus ein. Wenn der Glaube keinen Anhalt am irdischen Jesus habe, dann sei die Auflösung des erhöhten Christus in einen Mythos nicht abzuwenden. "Das Selbstverständnis der Jünger Jesu ergibt sich aus der Nachfolge, nicht aus einer Idee", stellt Käsemann klar.Er war der Lehrer beziehungsweise schaffte Grundlagen, auf denen namhafte Theologen aufgebaut haben, Dorothee Sölle, Jürgen Moltmann, Hans Küng, Leonardo Boff und andere.

Übersetzungen der wichtigsten Schriften des mehrfachen Ehrendoktors in zahlreiche Sprachen bekunden weltweite Beachtung sowie nachhaltige Wirkung seiner theologischen Arbeit und seiner Verkündigung. Stets lernbereit gewinnt sein Denken im Erleben der Vielfalt und der Lebendigkeit der wachsenden Kirchen der sogenannten Dritten Welt in Verbindung mit der Diskussion seiner Forschungsergebnisse über "Einheit und Vielfalt in der neutestamentlichen Lehre von der Kirche" auf der Vierten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal 1963 weltweiten Horizont. Durch die Erfahrungen auf späteren Tagungen wird das noch verstärkt.

Hier unter anderem gründet die für ihn so charakteristische radikale Kritik an den bisher von den europäischen Kirchen bestimmten Traditionen und Entwicklungen. Er konnte in solchen Zusammenhängen mit Luther darauf hinweisen, dass das Evangelium durchaus auch weiterziehen könne, "wie ein fahrender Platzregen." Oder er konnte sagen: "Die Zeit des weißen Mannes ist vorbei!"

Zur Kontinuität und Konsequenz seines allezeit leidenschaftlichen theologischen Wirkens aus Glauben gehörte für diesen inzwischen zu einem herausragenden Lehrer der Kirche gewordenen Mann, innerhalb und außerhalb des kirchlichen Bereiches Stellung zu beziehen. Folglich geriet er, vielen auch unbequem werdend, in Konflikte. Er scheute sie nicht, im Gegenteil er provozierte nicht selten geradezu angriffslustig, Missverständnisse einkalkulierend. Als ein "kämpferischer Christ" bezeichnete er sich auch ganz gern selbst als "Rebell" oder "Partisan". Er war gewiss ein Einzelgänger. Doch hat die Christenheit nicht je und dann solche Einzelgänger nötig, die oft Störenfriede waren in ihrer Kirche wie in ihrer Gesellschaft wie Ernst Käsemann? In seinem 1967 auf dem Krankenbett niedergeschriebenen Buch "Der Ruf der Freiheit" greift er die Verbürgerlichung des Christentums in der etablierten Volkskirche an.

Besonders in der ersten Ausgabe setzt er sich polemisch zudem mit der theologisch sehr konservativen "Bekenntnisbewegung" kein anderes Evangelium auseinander. Diese hatte ihn zum Ketzer gestempelt und ihm abgesprochen, ein Lehrer der Kirche zu sein. Diese leidenschaftliche Streitschrift, eine Theologie in einem Wurf, in der er bewusst an die Erlebnisse und Erfahrungen im Kirchenkampf in Rotthausen erinnert, erscheint nach mehreren Auflagen bald in sechs Sprachen, darunter Japanisch. Für Käsemann war Paulus besonders wichtig, der nach seiner Erkenntnis in einer Schärfe wie kein anderer das Wesen des Glaubens und zugleich auch die rechte Interpretation der Worte und Geschichte Jesu herausstellt. Neben allen anderen neutestamentlichen Schriften widmete er besonders diesem Theologen durch Jahrzehnte sich hinziehende Forschungsarbeit.

Ihren Niederschlag fand diese in dem Buch "Paulinische Perspektiven" und vor allem in seinem großen Römerbriefkommentar von 1973. So wird auch die Rechtfertigungslehre für ihn zentrales Thema. "Die paulinische Rechtfertigungslehre behauptet das Recht Gottes auf seine Schöpfung und seine Geschöpfe. Das bedeutet aber, dass diese Rechtfertigungslehre das erste Gebot aufnimmt und interpretiert, nämlich gerade die Befreiung der Geschöpfe von dämonischen Gewalten, vom Götzendienst."

So fasst er als 70jähriger zusammen, was er darunter versteht, nicht Rechtfertigung der Frommen sondern der Gottlosen. "Nicht hauptsächlich um die Stärkung, Besserung, Bewährung der frommen Leute und den Sieg der Religiosität in der Welt, sondern um die Befreiung der Menschen und der Erde aus dämonischer Macht der Gottlosigkeit, ist es unserm Gott zu tun. Er arbeitet in unserer Welt mit gefallenen Geschöpfen ... mit denen, die auf Gnade angewiesen sind und nicht aus eigener Vernunft und Kraft und Frömmigkeit heraus zu leben vermögen."

"Gott korrigiert nicht bloß unsern guten Willen und hilft nicht nur unserer Schwachheit auf, sondern schafft uns täglich neu mit dem Ruf aus dem Tode ins Leben, aus der Sorge um uns selbst in die Dankbarkeit hinein, welche sich fremder Not öffnet ... Die eiserne Ration des Christen und der Kirche besteht letztlich allein im ersten Gebot ...das primär Verheißung ist. Ihr braucht den andern Göttern nicht mehr zu dienen, weder mit eurem Vertrauen, noch mit eurer Furcht. Ihr habt einen Herrn, der euch und die Schöpfung mit keinem teilt und euch darin freimacht von jedem Joch der Illusionen und angeblichen Sachzwängen. Der zum Kreuz gehende Christus, der paradox in seinem Gehorsam seine Freiheit bewährt, ist das Bild, nach dem ihr geprägt werdet und Vollendung erfahrt."

Weltweit gesehen und für die Zukunft gilt für Käsemann, damit Ernst zu machen, dass immer wieder neue Menschen und neue Situationen kommen und wir deshalb in der Christenheit gezwungen sind, "aus des Vaters Haus hinauszugehen, das heißt auch hinauszugehen aus des Vaters Kirche, sehr grob gesprochen. Es heißt aber auch hineinzugehen in das neue Gotteshaus, wo der Geist dafür sorgt, dass man Jesus nicht vergisst." Woran Käsemann denkt, ist eine weltweite Kirche, in der die Freiheit der Kinder Gottes sichtbar und hörbar als Zentrum des Christentums erscheint. Der Christ hat seine Freiheit in dem neuen Gehorsam immer neu auch zu bewähren.

Das heißt er hat je an seinem Platz mit den ihm zur Verfügung stehenden Gaben dem ans Kreuz gegangenen Christus nachfolgend zu handeln, sich den jeweiligen konkreten Situationen und Aufgaben zu stellen. Und das hat unter dem geltenden totalen Anspruch des ersten Gebotes, wie unter der nicht einfach privatem frommem Gebrauch zu überlassenden Bergpredigt auch eine politische Dimension. Dazu gehört, das wird nun zunehmend das Anliegen Käsemanns,sich unter anderem auch in gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Bereichen mit Kritik und Widerstand gefordert zu sehen. Es gilt, sich freimütig einzumischen, wo Mächte der Unterdrückung, Ausbeutung, Zerstörung der Schöpfung herrschen, die er häufig "dämonisch" nennt. "Ohne dass ich Marxist wäre, ich sehe die Dämonie am stärksten im kapitalistischen Denken des weißen Mannes. Dadurch werden in der Dritten Welt zwei Drittel der gesamten Erdbevölkerung zum Objekt der Ausbeutung und erscheint diesen zwei Dritteln die Erde als Hölle." Er erinnert sich an die Kämpfe während der zwölf Jahre des Naziregimes und formuliert jetzt, "dass Kirche zu sein hat die Widerstandsbewegung des erhöhten Christus auf der Erde gegen alle dämonische Gewalt."

Den Delegierten auf der Missionskonferenz am 14. Mai 1980 mutet er in seinem Einleitungsreferat zu, die Christenheit müsse Stimme der Unterdrückten, kritisches Gewissen gegen Besitzgier, Plünderung der Erde, Vergewaltigung ihrer Geschöpfe und Festschreiben des Status quo sein. Christen seien berufen, Mund der Unterdrückten zu sein. Denn "sich selbst gegenüber frei ... von Angst und übermut in gleicher Weise nicht mehr geplagt, können sie ihre ganze Kraft daran wenden, wahrhaft menschlich und zu Hütern alles Menschlichen zu werden, das seit Adam und Kain auch in den Kirchen immer wieder schnöde verraten worden ist." So gilt es von denen, die den Ruf des Gekreuzigten in seine Nachfolge gehört haben, so konnte man es von ihm auf dem Kirchentag in Hannover 1967 und immer wieder hören.

Die geschilderte Ausrichtung der theologischen Arbeit Käsemanns entsprach seiner lange schon verfolgten Einsicht. Doch habe er unverwechselbare und höchst konkrete Zielsetzung 1967/68 aus den Auseinandersetzungen mit den revoltierenden Studenten an der Universität gewonnen, in gewisser Hinsicht"von den Jungen bekehrt", gesteht der Professor offen. Die Folge war für ihn freilich spürbare Vereinsamung unter alten Freunden und Kollegen, die das nicht begriffen haben. Gleichwohl geht er unbeirrbar seinen Weg, zuletzt als "Wanderprediger",wie er sich gelegentlich bezeichnete, Kirchen und Welt beredt, engagiert und kompromisslos zur Umkehr rufend, wo immer man ihn um Vortrag oder Predigt bat. "Résistez!" ruft er an seinem 90. Geburtstag der ihm gratulierenden Hochschulgemeinde hugenottisch "als letztes Wort und als mein Erbe" zu.

"Denn die Nachfolge des Gekreuzigten führt notwendig zum Widerstand gegen Götzendienst an jeder Front, und dieser Widerstand ist, und hat zu sein das wichtigste Merkmal christlicher Freiheit." Er selber mischte sich mit persönlichem Engagement ein und praktiziert Widerstand. So stellt er sich 1977 auf die Seite der nach seiner Einsicht zu Unrecht bedrängten Studenten. Er droht an, zusammen mit seiner Frau aus der württembergischen Landeskirche auszutreten, falls die Landessynode die vorgenommene Streichung der Mittel für die Tübinger Studentengemeinde, der man "linksradikale Aktivitäten" vorwarf, nicht korrigiert beziehungsweise rückgängig macht.

Das erfolgt dann auch nach einer damals anstehenden Neuwahl der Synode. Käsemanns ausführlich begründete Ankündigung löste Nachdenken aus, weit über Württemberg hinaus sowie eine Flut von Zuschriften. Viele äußerten Bedenken, die allermeisten aber dankbare Zustimmung. Wiederholt tritt er öffentlich, auch mit persönlichem Einsatz, protestierend gegen Atomrüstung überhaupt und gegen die im Lande vorgesehene Aufstellung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen auf. In Briefen an seine Kirchenleitung sowohl als auch an die Bundesregierung bezog er kritisch Stellung. Und Leute, die wegen ihrer politischen Haltung in Friedensfragen persönlich in Schwierigkeiten geraten waren oder solche die sich für andere Bedrängte verwandten, baten den streitbaren Christen nicht vergeblich ...

Mit diesem gewiss allzu kurzen Einblick in das umfangreiche theologische Werk des so bedeutenden Hochschullehrers Ernst Käsemann sollten und konnten hier nur einige seiner Schwerpunkte aufgezeigt werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Es geschah mit der Absicht, die Kontinuität zu der Arbeit des Pastors der Bekennenden Gemeinde sowie Fortführungen derselben aufzuzeigen. Die Kontinuität über alles hin findet sich in dem Gebet, das den glaubwürdig, mit Freimut bekennenden Christen seit jenem Bittgottesdienst am 15. August 1937 in Rotthausen begleitet hat: "Herr, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns denn du; aber wir gedenken doch allein dein und deines Namens".

Quellen, Schriften, Literatur

Archiv der Evangelischen Kirchengemeinde Rotthausen, Gelsenkirchen. Mit Protokollen der Leitungsgremien 1933-1946 und Lagerbuch der Gemeinde.
Archiv des Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid, Synodalprotokolle
Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung 31. und 32. Jahrgang
Gelsenkirchen 1933-1945, Beispiele der Verfolgung und des Widerstandes, Gelsenkirchen 1982
Kirchliches Amtsblatt der Kirchenprovinz Westfalen, 1934

Bücher und Schriften von Ernst Käsemann

Das wandernde Gottesvolk, Göttingen 1939
Exegetische Versuche und Besinnungen, Band I 1960, Band II 1964, Göttingen
Der Ruf der Freiheit, Tübingen 1968
Paulinische Perspektiven, Tübingen 1993;
An die Römer, Handbuch zum Neuen Testament, 8a, Tübingen 1973
Kirchliche Konflikte Band 1, Göttingen 1982
Ernst Käsemann, Widerstand im Zeichen des Nazareners, Romero- Haus-Protokolle, Luzern 1986
Nachlass von Ernst Käsemann mit Predigten, im Besitz der Familie
Ein theologischer Rückblick, Tübingen 1996,
Rechtfertigung, Festschrift für Ernst Käsemann, Tübingen/Göttingen 1976
Ernst Käsemann, Bußtag 1934, in 1893-1993 Festschrift zum 100jährigen Bestehen der Evangelischen Kirchengemeinde Rotthausen, Gelsenkirchen 1993
Störenfriede des Status quo, Gespräch mit Prof. Dr. Ernst Käsemann, in Lutherische Monatshefte 20, 1981
Ernst Käsemann, Résistez! Nachfolge des Gekreuzigten führt notwendig zum Widerstand, in Transparent 52/98, Duisburg
Richard Walter, Kirche vor Ort: 100 Jahre Evangelische Kirchengemeinde Rotthausen, Bielefeld 1993
Richard Walter, Ernst Käsemanns Wirken als Gemeindepfarrer im Kirchenkampf in Westfalen 1933-1946, in KZG 12.1999

Bildquelle: Amt für Information der Landeskirche Württemberg


Andreas Jordan, Dezember 2007

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