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Polizeibataillon 316 - Massaker in Polen

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Wie die Deutschen im polnischen Borów metzelten

750 Dörfer metzelten die Wehrmacht und die deutschen Polizeikräfte in Polen nieder, darunter Borów. Konrad Schuller hat seine Bewohner besucht und mit den letzten Überlebenden gesprochen. In einer packenden Reportage erzählt er von ihrem Leid, aber auch von den Tätern und was sie nach 1945 trieben.

Wir haben uns im Haus des alten Kamecki getroffen. Viele Szenen in diesem Buch beginnen beschaulich. Wir, das sind Konrad Schuller, der Autor, und der besagte Kamecki, dazu ein paar Verwandte und der Dorfschulze. Ein paar Seiten weiter sind es wiederum der Autor, die alte Maria Baran und ihre Nachbarn. Man sitzt am Küchentisch oder unterm Birnbaum. Ort und Zeit: Hier und heute.

Doch das ist nur der kunstvoll geschnitzte Rahmen. Das Bild darin stammt aus dem Jahre 1944, und wenn Maria Baran es aus der Erinnerung wachruft, weiten sich ihre Augen und werden glasig. Ihre Nachbarn fügen noch Farbtupfer hinzu, werfen etwas ein, ringen nach Worten oder auch nach Luft. Tief drinnen finden wir die Essenz dieses Buches: In Rede und Gegenrede formt das Dorf seine Erinnerung?: Deutsche Schützenreihen marschieren aufs Dorf, vor der Kirche eröffnet ein Soldat das Feuer, Panzerketten rattern, in Kellern voller Menschen detonieren Handgranaten, Benzin fließt über Tote.

Von Bauern und Soldaten ist in diesem Büchlein die Rede. Ein asymmetrischer Krieg. Schuller hat einen kleinen Frontabschnitt des großen Gemetzels der Jahre 1939 bis 1945 besichtigt und daraus eine große literarische Reportage gemacht: "Der letzte Tag von Borów".

Zufall oder nicht: Vor zwölf Jahren ist in Deutschland ein Buch erschienen mit dem Titel "Der letzte Tag von Oradour". Fast jeder in Europa kennt Oradour. Niemand kennt das Dorf Borów. Nicht nur das Vernichtungsgeschehen hat sich über Europa asymmetrisch verteilt, stellt der Verfasser fest, auch die Erinnerung an fremdes Leid. Schuller, Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen" in Polen, hat sich für sein Buch ein scheinbar unscheinbares Thema ausgesucht. Borów liegt - oder soll man sagen: lag? - nordöstlich von Krakau, fast an der Weichsel, gerade noch in Galizien.

Die Kirche brennt

Das Ereignis, das diesen Ort verändert hat, fällt auf den 2. Februar 1944, den Feiertag Mariä Lichtmess. Das Dorf ist in der Holzkirche versammelt, als ein Pfarrer die Kirchentür aufreißt und verkündet: Die Deutschen kommen, wer jetzt nicht rennt, muss sterben. "Kurz darauf trafen die ersten Geschosse das Gotteshaus."

Und dann? Der "Meister aus Deutschland" versieht sein Handwerk. Eine deutsche Einheit, Polizeibataillon 316, eröffnet das Feuer auf die Menschen vor der Kirche, steckt Menschen und Häuser in Brand. Man kann für diese Geschichte aus unterschiedlichen Quellen schöpfen. Schuller lässt zunächst die Opfer sprechen.

Sie erinnern sich an Szenen wie diese: Zwei Männer greifen die 17 Jahre alte Lucyna Jaskiewicz und werfen sie in ihr Haus, das sie zuvor in Brand gesetzt haben. Dann die Täter: Der zuständige "Kommandeur der Ordnungspolizei" meldet, bei einer "Großaktion" von Polizei und Wehrmacht in Borów und Umgebung seien "rund 480 Banditen und Verdächtige im Feuerkampf bzw. auf der Flucht erschossen" worden; das Dorf sei beim Kampf in Brand geraten und "infolge des herrschenden Sturmes" abgebrannt.

Die Lüge der Täter

In diesem Beschönigungsschreiben erkennt der Autor "Reste einer altmodischen bürgerlichen Scheu", die ein Massaker in einen mannhaften Kampf zu verwandeln suche. Dass die Täter nach der Tat noch zur Lüge Zuflucht nahmen, urteilt Schuller in einer großartigen Interpretation, "erhöht die Last, die auf ihnen liegt".

Wie ein Historiker ermittelt hat, ist Ähnliches 750 Dörfern in Polen widerfahren. Dass gerade Borów jetzt aus dem Dunkel der Anonymität hervortritt, hat etwas mit Winicjusz Natoniewski zu tun. Er hat den Angriff als Fünfjähriger erlebt, brannte lichterloh, ist bis heute verstümmelt. Wenn er für sein Leid Entschädigung forderte, musste er erfahren, dass er in keine Entschädigungskategorie passe. So zog er vor ein polnisches Gericht und klagte gegen die Bundesrepublik; der Bescheid in erster Instanz: aufgrund der Immunität jedes Staates könne man die Klage nicht zulassen. Doch da war sein entstelltes Gesicht bereits in polnischen Zeitungen zu sehen.

Massaker an Zivilisten

Schuller ist am Ende auf einen ehemaligen deutschen Soldaten gestoßen, der während des Massakers in einem Haus in Borów feststellt, dass der Familienvater Antoni bei seinem eigenen Vater in Westfalen Zwangsarbeiter ist. Da lässt er die Waffe sinken. Immer wieder taucht in den Erzählungen der Einwohner ein "guter Deutscher" auf, der nicht schießt. All diese Episoden wurden im "letzten Tag von Borów" gründlich recherchiert und kunstvoll zusammengefügt. Man mag sich an der einen oder anderen sprachlichen Arabeske stören. Doch insgesamt zeigt der Autor einen Sinn für sprechende Details ebenso, wie er den souveränen Blick für das Ganze wahrt. Zu diesem gehören auch die Exkurse: zum Dreißigjährigen Krieg und zum Massaker von My Lai.

Ganz normale Männer?

Wird der Leser nach dieser fesselnden Lektüre noch eine Dissertation zur Hand nehmen wollen? Er sollte es. Der Historiker Markus Roth wirft den nüchternen Blick seiner Zunft kollektivbiografisch und institutionengeschichtlich auf 130 deutsche Kreishauptleute in Polen, die weitaus meisten altgediente NSDAP-Mitglieder und Juristen. Die Hauptleute waren in ihren Kreisen mächtige Männer. Manche nutzten ihren Improvisationsspielraum und richteten bereits Gettos ein, als dies der Verwaltung des Generalgouvernements noch inopportun erschien. Man ließ sie gewähren.

Einige haben selbst Menschen getötet oder Massaker organisiert. Nach dem Krieg durchliefen die meisten erfolgreich die Entnazifizierung und fügten sich in die bundesdeutsche Gesellschaft ein - viele als Juristen oder Beamte, einer als Sozialminister in Schleswig-Holstein. Nur zu einigen Ermittlungsverfahren gegen Hauptleute und zu einem Prozess ist es gekommen (Freispruch); ihre Rolle war bisher fast ebenso unbekannt wie das Schicksal des Dorfes Borów.

Von Gerhard Gnauck, 29. August 2009 auf www.welt.de

Literatur zum Thema
Konrad Schuller: Der letzte Tag von Borów. Polnische Bauern, deutsche Soldaten und ein unvergangener Krieg. Herder, Freiburg i. Br. 199 S.
Markus Roth: Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen - Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte. Wallstein, Göttingen. 556 S.

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Andreas Jordan, April 2010

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