Joseph P. KrauseUnser Wohnumfeld: Die Familien Dr. Hans Kassner (Augenarzt) und Paul Krause wohnten im Haus Kaiserstraße 71 (jetzt: Kurt-Schumacher-Straße). Im Haus rechts daneben wohnte die Familie des Ludwig ten Hompel, Amtsgerichtsrat und späterer Amtsgerichtsdirektor am Amtsgericht Gelsenkirchen. Bereits am 4. November 1944 war Schalke bei einem Bombenangriff in Mitleidenschaft gezogen worden. Aus einem brennenden Haus an der Grillostraße war mir dabei ein Funken in das rechte Auge, das sich davon entzündete, geraten.
Noch während dieser Meldung brach die entfesselte Hölle los. Wir flohen vor den Bombenteppichen, die unmittelbar mit dem Sirenengeheul der "akuten Luftgefahr" niedergingen, ins Freie. Bei dieser Luftwarnung drehte sich automatisch mein Magen um, und mich suchte stets eine schmerzhafte, ordinäre Diarrhöe heim. Ich wurde beim Hinuntersprinten aus dem 1. Obergeschoß unter Zersplittern von Fenstern und Türen von dem Luftdruck der ersten Bomben zusammen mit meiner 13jährigen Schwester Hildegard durch das geräumige Treppenhaus in das Parterre geschleudert. Im Bombenhagel und zwischen herumfliegenden Trümmerteilen und Granatsplittern der Flak gelangten wir in den öffentlichen Luftschutzkeller unter dem Feuerwehrmuseum an der Kaiserstraße, das zweite Haus links neben der Kaiserstraße 71. Dazwischen lag das Wohnhaus mit Praxis des Dr. med. Kirchmeyer. Meine Schwester Genoveva (19) war mit zwei Kindern in Panik zur Kirche St. Joseph gerannt und fand Zuflucht in der dortigen Krypta. Unter dem Feuerwehrmuseum erlitten wir das Nonplusultra eines Weltuntergangs. Zehntausende Spreng- und Brandbomben hagelten auf Schalke herab. Alle Versorgungsleitungen waren sofort unterbrochen. Kein Wasser. Kein Strom. Keine Funksignale oder Warnmeldungen. Jemand im Keller zündete eine Wachskerze an, die aber sofort durch Luftdruck erlosch. Orientierung boten allein die Streifen an den Wänden, die mit Leuchtfarbe gestrichen waren.
Die mit meiner Mutter befreundete Schuhhändlerin Frau Ziegler mit ihrer Tochter (21 Jahre alt) war ein paar Meter von uns entfernt im Keller ihres Geschäftes an der Schalker Straße, Ecke Grillostraße, gegenüber dem früheren Schuhgeschäft Jampel, zusammen mit einer Tante der Ursula Rademacher (diese aus der Funkenburg, später Pfarrsekretärin bei Pfarrer Egon Röer an Hl. Dreifaltigkeit im Haverkamp) und dem Baby der Tante qualvoll verbrannt. Das war Dante's "Inferno" pur. Es herrschte Heulen und Zähneknirschen. Die geschundenen Menschen brüllten und schluchzten vor Verzweiflung und Todesfurcht. Grauen und Gruseln drang aus allen Fugen. Nachdem die ersten Angriffswellen mit 738 Flugzeugen nach einer knappen Stunde, die uns wie eine Ewigkeit lähmte, abgeflaut war, wollten wir den Luftschutzkeller, über dem die Ruinen brannten, verlassen. Der Keller-Haupteingang (Treppenabgang) zur Kaiserstraße war von glühenden Trümmern und brennenden Balken halb verschüttet, der Mauerdurchbruch zur Schalker Straße als Fluchtweg durch ein unendliches Flammenmeer versperrt und unpassierbar. Meine Mutter Mathilde Krause erfaßte blitzschnell die Situation und organisierte aus den völlig verzweifelten, verstörten bis apathischen Frauen einen Rettungstrupp. Sie ergriff die noch nicht brennenden Teile der Bretter und Balken und drückte sie in fliegender Hast seitlich weg vom Kellereingang. Wir anderen schafften das schwelende Holz weiter nach hinten, um den Gang passierbar zu halten. Kleinere Trümmerteile warf meine Mutter in hohem Bogen durch Lücken im Balkendickicht nach oben in die gleißende Hitze des Feuers.
Unserem Wohnhaus gegenüber bestand das Haus des Kinderarztes (oder: HNO) Dr. Kunze nur noch aus einem riesigen Flammenturm, dessen Sog einer flüchtenden, alten Frau, die über die lodernden Scheite stolperte, den Hut vom Kopf riß. Sie wollte hinterher rennen und sich zur Rettung ihres Hutes in die Flammen stürzen. Ich - 12 Jahre alt - hielt sie instinktiv zurück und zerrte sie an der Hand von dem glühenden Feuersturm weg, und wir torkelten gemeinsam über die gleißenden Ruinen. Am Fenster im ersten Stock dieses Hauses oder nebenan flehte eine lichterloh brennende Frau mit erhobenen Armen wild gestikulierend und gellender Stimme in Todesangst vergeblich um Hilfe. Der Schalker Markt, eingeschlossen von riesigen Feuerfackeln, war zu einem einzigen Tohuwabohu, von Nero-Churchill entzündet, verkommen. Über der Gaststätte "Bei Mutter Thiemeyer" (Schalke-04-Legende), der alten "Kaiserhalle", und im Haus nebenan warfen verzweifelte und völlig durchgeknallte Menschen - besessen von nacktem Wahnsinn - in der irrwitzigen Hoffnung, noch etwas retten zu können, ganze Möbelstücke aus den Fenstern der brennenden Zimmer auf den Gehsteig, wo sie zerschellten. Das Tapetengeschäft Ecke Schalker Markt / Schalker Straße brannte lichterloh wie Zunder, ebenso das Milchgeschäft Kruhöfer an der Ecke Kaiserstraße / Schalker Markt. Der Laden von Fritz Szepan (aus arisiertem Vermögen übernommen) und das frühere Tabakgeschäft des Ernst Kuzorra verglühten und zersprühten in gleißenden Lohen. Hinter vorgehaltener Hand wurde später Kuzorra's angeblicher Ausspruch verbreitet: "Jetzt kann Hitler mich am Arsch lecken!"
Meine Mutter begab sich sofort an die Pumpenaggregate, um wegen des Stromausfalls per Handbetrieb an der Frischluftversorgung für uns, die von der Außenwelt hermetisch abgekapselten Insassen, mitzuarbeiten. Drinnen war es stickig und überhitzt. Wir saßen auf Böden und Treppen, zusammengepfercht wie Ölsardinen. Die Briten steigerten das Grauen durch eine weitere, perverse Angriffswelle. So erlebten und überlebten wir den zweiten Großangriff abends am selben Tag, dem 6. November 1944, um 19:25 Uhr. Der Tod kehrte zurück. Schalke wurde zur Nekropole, zum Blutacker, zum Hochofen für Menschenfleisch. Der Gottseibeiuns griff nochmals gierig nach uns Überlebenden der Katastrophe. Auf das erlittene Entsetzen wurde wiederum grausamste Vernichtung angedockt und aufgestockt. Der "Zuckerhut" wurde bei dem abendlichen Alarm nach meiner Erinnerung zweimal von Sprengbomben getroffen. Unser Elend wurde vervielfacht. Wir drehten durch. Der "Zuckerhut" schwankte pausenlos, so daß wir dachten, er kippt um. Wieder schreiende und verzweifelte Menschen, ein Haufen Wahnsinniger in Todesangst, innerhalb weniger Stunden erneut gebeutelt und drangsaliert, laut plärrende oder wimmernde Kinder mit voll geschissenen Hosen ohne Nahrung und Wasser, ohne Elektrizität, Erwachsene, die wie Kleinkinder in die Leibwäsche urinierten. Das nicht mehr zu überbietende Grauen war über Schalke hereingebrochen. Es roch nach verbranntem Fleisch und Unrat. Wo - zum Teufel!!!! - war Gott an diesem 6. November 1944? Noch heute, nach über mehr als 60 Jahren, weine ich als alter Mann, wenn der Kalender den 6. November anzeigt. Wir waren durch den entflammten und enthemmten Horror und Terror getrieben worden, hatten die Eruptionen der Hölle überlebt, Vulkane des Phosphors, Attacken von Brandbeschleunigern, die gewaltigen Druckwellen der Luftminen, das Tosen von tausend Feuern. Am späten Abend war draußen tückische Ruhe eingekehrt, und die Ordnungskräfte ließen einzelne Gruppen der Bunker-Insassen nacheinander über eine noch intakte Nottreppe zum Eingangsbereich vor, damit die Leute an die "frische Luft" kamen, die allerdings aus penetrantem Brandgestank bestand, aus dem Mief verbrannten Fleisches und Unrats. Ringsherum waren nur Trümmer und Feuerwalzen zu sehen. Manche Frauen standen stumm vor grenzenlosem Leid, sie schluchzten, andere drehten durch und röhrten verzweifelt ihren Schmerz gegen den brutalen, erbarmungslosen, blutigen Himmel.
Einer der Überlebenden im Keller des Pfarrhauses war Heinrich Rettler, später Rektor der Volksschule an der Caubstraße in Schalke-Nord, die ich als Notbehelf 1946 frequentierte. Rettler war übrigens der Meinung, ich sei der geborene Chronist. Viele hatten am 6. November 1944 ihr Hab und Gut verloren, waren obdachlos. Gott hatte sich von Schalke abgewandt. Unsere Schwester Genoveva hielten wir für tot. Irgendwann stieß sie mit den beiden Geschwistern verstört zu uns. Sie hatte sich aus der Krypta der brennenden Schalker Pfarrkirche St. Joseph gerettet. "Entkam den Flammen wie durch ein Wunder" titelten die "Ruhr-Nachrichten" in einem Rückblick am 15. Oktober 1977. Von unserem Vater Paul Krause, der "auf Consol" verschüttet war, hörten wir erst Tage später, daß er lebte. Ich meine mich zu erinnern - allerdings unter Vorbehalt - daß er mit einigen Kumpels durch den Schacht "Oberschuir" in der Feldmark ans Tageslicht geholt wurde. Später fanden meine Mutter und Frau Kassner (Ehefrau des Dr. med. Hans Kassner) heraus, daß das Wohnhaus des Oberstudiendirektors Schönhauer vom Adolf-Hitler-Gymnasium trotz eines Treffers durch eine Brandbombe eine provisorische Unterkunft bot. So hausten wir vorübergehend dort. Noch 3 oder 4 Tage nach den beiden Großangriffen am 6. November 1944 hatten Rettungstrupps aus dem Keller der zusammengestürzten Drogerie Schmitz (Ecke Kaiserstraße und Grillostraße, zwei Häuser links vom Feuerwehrmuseum) eine Frau herausgeholt. Sie lag vor dem Haus auf Trümmern und war total schwarz, verbrannt, verkohlt, verrußt, das Gesicht unkenntlich: Aber ich merkte, als ich mich über sie beugte, daß sie - bestialisch nach verbranntem Fleisch und Kot stinkend - noch schwach röchelte. Wo Straßen asphaltiert waren, konnte man nicht gehen, weil der Teer durch die Hitze der Feuersbrünste zu einer zähen Masse aufgequollen war. In der Turnhalle des Gymnasiums (Eingang Schalker Straße), die nur teilweise zerstört war, wurden die Leichen und Leichenteile gesammelt, verbrannt, geschrumpft, zerfetzt. 518 Bombenopfer wurden identifiziert. Später errechneten Statistiker für diesen Tag des Entsetzens auf dem Kriegsschauplatz Gelsenkirchen den Abwurf von 6460 Sprengbomben und 167 131 Brandbomben. 17880 Häuser wurden in Schutt und Asche gebombt. Zur Bergung der Toten wurden auch gefangene Fremdarbeiter eingesetzt. In den Trümmern der Fa. Pleiss, Bäckereibedarf, Ecke Martin-Faust-Straße und Anton-Hechenberger-Straße (jetzt: Magdeburger Straße und Königsberger Straße), war zwischen den Trümmern des Warenlagers Zucker verschmort. Ich sah, wie die jungen, unrasierten, total verdreckten Zwangsarbeiter verzweifelt Stücke der harten Masse losschlugen und gierig hinunterschlangen, um Zusatznahrung zu haben. Dies geschah unter Lebensgefahr; denn Plünderer wurden standrechtlich erschossen. Wenig später wurde meine Mutter fälschlich bei den NS-Behörden unter der Anschuldigung des Plünderns denunziert. Ihre handschriftlichen Niederschriften, die sie im Gewahrsam der Gestapo fertigte, besitze ich noch heute. Es stellte sich heraus, daß sich die angeblich von meiner Mutter geplünderten Kleidungsstücke bei einer aus Schalke evakuierten Familie in Ostwestfalen befanden. Von unserem Wohnhaus Kaiserstraße 71 blieb lediglich ein Teil der Fassade stehen. Die gewaltige Öffnung in der Mitte der 1. Etage war zuvor ein Erker, in welchem bis zum Bombeneinschlag ein riesiges Aquarium stand, das mich täglich mit seiner Unterwasserwelt fasziniert hatte. Den einzigen Rest von Wert aus den Trümmern barg ich in Handarbeit 1946. Unsere Waschmaschine (Holzbottich mit Wassermotor) grub ich mit bloßen Händen aus einer Ecke der ehemaligen Waschküche, wozu ich die Trümmer beiseite schaffen mußte. Wir Kinder waren in der Taxierung der Bomben und britischen Flugzeugtypen wahre Experten und konnten Flugzeuge beim Anflug an ihren Motorgeräuschen identifizieren, was sehr leicht bei den "Spitfire" gelang. So schätzte ich nach der Tiefe und Größe des Kraters "unsere" Bombe auf 20-Zentner. Sie war in die Waschküche geschlagen und der Luftdruck nach oben entwichen, so daß das Gerät - bedeckt von Ziegelsteinen und Mörtel - nicht gänzlich zerstört und vom Bombentrichter aus relativ schnell frei zu räumen war. Zwar war alles trostlos demoliert, aber es fand sich am früheren Alten Markt in Gelsenkirchen ein älterer Handwerker in einem provisorischen Schuppen, der die Dauben des Holzbottichs erneuerte (die metallenen Reifen hatte ich gleichfalls gerettet) und den Wassermotor reparierte, reinigte und ölte. Epilog zum Schalker Lokalkolorit: Vor dem 6. November 1944 war für solche Reparaturen (Löten und Schweißen von Haushaltsgeräten, Töpfen, Eimern u.a.) "Philipp Heinrich" als renommierter Betrieb zuständig, Schalker Straße, Ecke Grillostraße, schräg gegenüber dem Schuhgeschäft des jüdischen Kaufmanns Jampel, wo ich mit meiner Mutter die "Reichskristallnacht" 1938 hautnah erlebte, alle Gebäude bis auf die Grundmauern zerstört am 6. November 1944. Autor: Joseph P. Krause. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors Bilder: StA Gelsenkirchen
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Veröffentlicht: Andreas Jordan, November 2008 |