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"Reichsverband der Juden in Deutschland"

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Am 4. Juni 1939 gingen alle jüdischen Verbände und jüdischen Gemeinden aufgrund der 10. Verordnung zum Reichsbürgergesetz zwangsweise in die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" auf. Ab September 1939 stand die Reichsvereinigung unter Kontrolle des Reichssicherheitshauptamtes beziehungsweise der Gestapo und hatte deren Anordnungen umzusetzen. Alle Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen als Juden galten, wurden in der Reichsvereinigung zwangsweise eingegliedert und mussten Pflichtbeiträge entrichten. Ausgenommen von der Pflichtmitgliedschaft waren anfangs noch Juden aus "Mischehen"; diese mussten jedoch später ebenfalls beitreten.

Inhaltsübersicht

→ Vorläufer
→ Personelle Kontinuität
→ Organisation
→ Aufgabenbereich
→ Verstrickung durch Mitwirkung
→ Auflösung der Reichsvereinigung
→ Bewertungen
→ Belegstellen
→ Literatur 

Vorläufer

Bereits im September 1933 hatten sich verschiedene Verbände zu einer übergeordneten Interessenvertretung mit dem Namen "Reichsvertretung der Deutschen Juden" zusammengeschlossen. Dieser Name musste im September 1935 in "Reichsvertretung der Juden in Deutschland" geändert werden. Der Dachverband wurde 1938 als "Reichsverband der Juden in Deutschland" zu einer Zwangsorganisation, in der jeder im "Deutschen Reich" lebende "Glaubensjude" Pflichtmitglied war. Ab Februar 1939 trat diese neue Gesamtorganisation kurzzeitig unter neuem Namen als "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" auf. Diese letzte eigenständige Interessenvertretung wurde im Juli 1939 unter Beibehaltung des Namens übernommen, gleichgeschaltet und in ein weisungsgebundenes Verwaltungsorgan umgewandelt.

Personelle Kontinuität

Bild: Leo Baeck

Bild: Leo Baeck

Diese Umorganisation stellte das Ende einer frei gewählten Vertretung und Führung der Juden in Deutschland dar, obwohl die Verwaltung und das Personal der Reichsvertretung der Juden in Deutschland, der jüdischen Gemeinden und des Präsidialrats weitgehend übernommen wurden. Der Vorstand der Reichsvereinigung wurde nicht mehr von der Vereinigung selbst gewählt und kontrolliert, sondern durch die Sicherheitspolizei (Sipo) ernannt.

Aus dem 1933 gewählten Vorstand wurden Leo Baeck (1873-1956) als Vorsitzender, Heinrich Stahl (1868-1942) als sein Stellvertreter, Otto Hirsch (1885 in Stuttgart, 1941 im KZ Mauthausen), Julius Seligsohn (Im KZ Sachsenhausen ermordet) und aus der Verwaltung der Reichsvertretung Arthur Lilienthal (1899-1942) und Paul Epstein (1901-1941) berufen. Als Vertreter der jüdischen Gemeinde Berlin wurden Moritz Henschel (1879-1947) und Philipp Kozower (1894-1944 im KZ Auschwitz ermordet) ernannt.

Bild: Heinrich Stahl

Bild: Heinrich Stahl

Diese personelle Kontinuität darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Deutschen Reich vom Juli 1939 an keine selbständig handelnde jüdische Organisation mehr gab. Im Gegensatz zu den selbst gebildeten Interessenvertretungen war die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" nunmehr völlig abhängig von den Behörden, deren Weisungen sie umzusetzen hatte. Sie verlor im Laufe der nächsten drei Jahre immer mehr an eigenen Handlungsmöglichkeiten und wirkte wie ein verlängerter Arm des Reichssicherheitshauptamtes.

Die Reichsvereinigung stand unter Aufsicht des Reichsministerium des Inneren und unter direkter Kontrolle der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), des Sicherheitsdiensts (SD) und ab September 1939 des Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Ihr wurde die Verantwortung für die Organisation und Finanzierung der jüdischen Wohlfahrtspflege und des jüdischen Schulwesens übertragen. Neben weiteren Aufgaben wie der jüdischen Auswanderung und der Berufsausbildung ergaben sich aufgrund der Verschärfung der antijüdischen Maßnahmen mit Beginn des Zweiten Weltkriegs neue Pflichten: Die "Gemeindeabteilung" der Reichsvereinigung war mit der Betreuung von Gemeinderesten und der Auflösung von jüdischen Gemeinden beschäftigt. Weiterhin mußten alle Sondergenehmigungen z.B. für Verkehrsmittelbenutzung über die Reichsvereinigung beantragt werden. Die Organisation einer Betreuung von jüdischen Kindern wurde notwendig, nachdem zunehmend alle arbeitsfähigen Juden zu Zwangsarbeiten herangezogen wurden.

Die NS-Behörden nutzten die Reichsvereinigung als Instrument zur Kontrolle der jüdischen Bevölkerung und zur Durchführung der "Endlösung der Judenfrage". Nach Beginn der Deportationen im Herbst 1941 mußte die Reichsvertretung diese organisatorisch unterstützen. Zu ihren Aufgaben gehörte u.a. die Betreuung der Menschen in den Sammellagern, das Führen von Statistiken über die jüdischen Gemeinden und die Weitergabe von Befehlen der staatlichen Behörden. Trotz der Überwachung und der erzwungenen Kooperation mit dem NS-Staat versuchte die Reichsvereinigung unabhängige Hilfsarbeit zu leisten.

Im Juni 1942 fand eine Sonderaktion gegen den Vorstand und die Verwaltung der Reichsvereinigung mit Verhaftungen und Deportationen statt. Alle "volljüdischen" Angestellten mußten im März 1943 durch "in privilegierter Mischehe Lebende" ersetzt werden. Die Auflösung der Reichsvereinigung erfolgte am 10. Juni 1943. Die Geschäftsstelle in Berlin wurde geschlossen, das Vermögen beschlagnahmt und die verbliebenen fünf Mitglieder, die nicht "arisch versippt" waren, deportiert.

Organisation

Neben der Zentrale in Berlin gab es 14 Bezirksstellen, in denen die Mitglieder kleinerer Kultusgemeinden zusammengefasst waren. Bis 1941 bestanden als Zweigstellen noch 17 größere Kultusgemeinden, die alle mehr als 1.000 Personen zählten. Nur die "Berliner Jüdische Gemeinde" verblieb daneben noch bis 1943 als juristisch selbständige Körperschaft.[1]

Juden aus "Mischehe" und "privilegierter Mischehe" mussten sich der Reichsvereinigung zunächst noch nicht anschließen. Ab 1942 wurden sie jedoch Zwangsmitglied, sofern sie einem jüdischen Religionsverband angehörten. 1943 wurden uneingeschränkt alle Personen, die nach nationalsozialister Definition Juden waren, beitragspflichtig in der Reichsvereinigung organisiert.[2]

Alle bisherigen jüdischen Publikationen wurden im November 1938 durch das "Jüdische Nachrichtenblatt" der Reichsvereinigung ersetzt, das damit zu einem Verordnungsblatt des Hauptamtes Sicherheit und späteren Reichssicherheitshauptamtes wurde.


" Es soll also der Grundsatz nicht aufgegeben werden, dass die Vorbereitung der Auswanderung der Juden in erheblichem Umfang den Juden selbst überlassen wird."


Aufgabenbereich

Das Reichssicherheitshauptamt umschrieb die der Reichsvereinigung ursprünglich zugedachte Aufgabe mit den Worten: "Der einzige Zweck der Organisation und der ihr eingegliederten Einrichtungen soll die Vorbereitung der Auswanderung der Juden sein. Es soll also der Grundsatz nicht aufgegeben werden, dass die Vorbereitung der Auswanderung der Juden in erheblichem Umfang den Juden selbst überlassen wird."[3]

Die Unterstützung von jüdischen Auswanderern sah auch die Reichsvereinigung als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an; daher kann bis zum Herbst 1941 von einem gewissen Einklang der Interessen gesprochen werden. Von den Emigranten musste die Reichsvereinigung "Spenden" von mindestens 25 % des Geldvermögens eintreiben. Aus diesem Fonds wurde ärmeren Juden das von den Aufnahmeländern geforderte "Vorzeigegeld" zur Verfügung gestellt und ihnen damit eine Auswanderung ermöglicht. Als die Deportationen ins "Altersghetto Theresienstadt" begannen, mussten die Ausgesiedelten sogenannte Heimeinkaufsverträge abschließen und der Reichsvereinigung dafür ihr gesamtes Vermögen abtreten. Die daraus stammenden Gelder wurden zum großen Teil später beschlagnahmt.

Daneben musste die Reichsvereinigung die Organisation der jüdischen Wohlfahrtspflege vollständig übernehmen und diese aus Pflichtbeiträgen und Spenden finanzieren. Kleiderkammern, Wohnungsnachweis und auch die religiöse Betreuung wurden zu unverzichtbaren Hilfen. Auch das jüdische Schulwesen wurde vom 1. August 1939 an durch die Reichsvereinigung organisiert und finanziert. Ebenso gehörten die Berufsausbildung und Umschulungsmaßnahmen zu ihren wichtigen Aufgaben, bis diese wie auch der Schulunterricht zum 30. Juni 1942 aufgegeben werden mussten. Als durch Abwanderung und Deportation viele der Kultusgemeinden die Verwaltungsaufgaben nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen konnten oder aufgelöst wurden, übernahm die Reichsvereinigung Grundstücke und Immobilien aus Gemeindebesitz. Diese wurden bei Auflösung der Reichsvereinigung vom Staat konfisziert.

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden der Reichsvereinigung häufig die Bekanntgabe, Organisation und Durchführung von antijüdischen Verordnungen auferlegt: So wurden Genehmigungen für Verkehrsmittelbenutzung über die Reichsvereinigung beantragt und auch bei der angeordneten Ablieferung von Rundfunkgeräten und Schreibmaschinen wirkte sie mit. Im März 1941 wurde die Reichsvereinigung vom Reichssicherheitshauptamt angewiesen, alle "jüdischen Wohnungen in arischen Häusern" aufzulisten;[4] danach erfolgten Kündigungen und Einweisungen in Judenhäuser. Wenig später musste die Reichsvereinigung eine statistische Zusammenstellung über die Juden in europäischen Staaten abliefern, die bei der Vorbereitung der Wannseekonferenz benötigt wurde. [5]

Verstrickung durch Mitwirkung

Anfang Oktober 1941 wurden hohe Funktionäre der Reichsvereinigung zur Gestapo einbestellt, unter Drohungen zur Verschwiegenheit verpflichtet und aufgefordert, bei der "Umsiedlung" mitzuhelfen. Andernfalls würde dies durch SS und SA durchgeführt und "man könne sich ja vorstellen, wie das dann durchgeführt" würde. Weil man lediglich von einer Teilevakuierung ausging und Schlimmeres verhüten wollte, stimmten die bedrängten Funktionäre trotz erheblicher Bedenken schließlich zu.[6]

Zu den auferlegten Pflichten gehörte die Auflistung von Vermögen und die Erstellung einer Kartei, die der Gestapo für die Auswahl der Deportierten diente. Die Mitarbeiter der Reichsvereinigung halfen bei der Zustellung der Deportationsbefehle, stellten Merkblätter für das Reisegepäck zusammen und sorgten für Verpflegung in den Sammellagern. Zeitweilig betätigten sich Gemeindehelfer selbständig als "Abholer" und forschten sogar nach, wenn der zur Ausreise Verpflichtete nicht angetroffen worden war.


Andernfalls würde dies durch SS und SA durchgeführt und "man könne sich ja vorstellen, wie das dann durchgeführt würde"


Auflösung der Reichsvereinigung

Im Juni 1942 fand eine "Sonderaktion" gegen den Vorstand und die Verwaltung der Reichsvereinigung statt, bei der mehrere Personen verhaftet und deportiert wurden. Im Rahmen der Fabrikaktion wurden im März 1943 fast alle "volljüdischen" Angestellten, die bei der Reichsvereinigung beschäftigt waren, deportiert und ersetzt durch Juden, die in "Mischehe" lebten. Am 10. Juni 1943 wurde die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" aufgelöst. Die Geschäftsstelle in Berlin wurde geschlossen, das Vermögen beschlagnahmt und die verbliebenen fünf Mitglieder, die nicht durch eine Mischehe geschützt waren, in den Osten deportiert.

Nur einige wenige "Vertrauensmänner" hielten in einer "Neuen Reichsvereinigung" im Auftrag der Gestapo den Kontakt zu den noch verbliebenen Juden, die in "Mischehe" lebten oder als "Geltungsjuden" von der Deportation noch ausgenommen waren.

Bewertungen

Den jüdischen Funktionären in Berlin und in den Bezirksstellen blieben nur geringe Handlungsspielräume, wenn sie bestehende Rivalitäten zwischen Gauleitung und Gestapo ausnutzen oder ein persönliches Verhältnis zu einem Gestapobeamten herstellen konnten.[7] Sie konnten bestenfalls intervenieren, wenn vorgegebene Richtlinien des Reichssicherheitshauptamtes missachtet wurden oder Einzelpersonen wegen geringfügiger Verstöße zur Strafe zusätzlich deportiert werden sollten.[8]

Hannah Arendt übte allgemein heftige Kritik an der Rolle der jüdischen Führer bei der Zerstörung ihres eigenen Volkes, die für Ruhe und Ordnung im Vernichtungsprozess gesorgt hätten[9]. Ein Ehrengericht der Jüdischen Gemeinde Berlin kam 1947 zur Bewertung, die Tätigkeit der Reichsvereinigung habe sich "letztlich zum Schaden" für die Deportierten ausgewirkt.[10] Die Historikerin Beate Meyer kam zur Feststellung, dass der Einsatz von Gemeindehelfern, der ursprünglich als Hilfestellung zur "besseren und milderen" Ausführung der Gestapoanordnungen gedacht war, sich zum effektiven Werkzeug der Gestapo entwickelt habe.[10]

Bild: Moritz Hentschel

Moritz Hentschel

Moritz Henschel, der letzte Vorsitzender der Reichsvereinigung, bezeugte glaubhaft, bis 1945 nie etwas vom Judenmord gehört zu haben.[12] Leo Baeck will erstmals 1941 von Gaswagen im Osten erfahren haben; sichere Kunde von Vergasungen habe er später in Theresienstadt erhalten. Dieses Wissen über das drohende Schicksal verschwieg er jedoch.[10]

Belegstellen

1. Wolf Gruner: Judenverfolgung in Berlin 1933-1945. Eine Chronologie der Behördenmaßnahmen in der Reichshauptstadt. Berlin 1996, ISBN 3-89468-238-8, S. 68.
2. Ursula Büttner: Die Not der Juden teilen... Hamburg 1988, ISBN 3-7672-1055-X, S. 45.
3. Magnus Brechtken: "Madagaskar für die Juden". München 1997 ISBN 3-486-56240-1 S. 212.
4. Joseph Walk: Das Sonderrecht für die Juden im NS-Staat. Heidelberg/Karlsruhe 1981, ISBN 3-8114-1081-4, S. 338.
5. Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz (Hrsg.): Katalog der ständigen Ausstellung. Berlin 2006, ISBN 3-9808517-4-5 S. 98.
6. Beate Meyer: Das unausweichliche Dilemma. ISBN 3-932482-86-7, S. 273.
7. Beate Meyer: Handlungsspielräume... Göttingen 2004, ISBN 3-89244-792-6, S. 85.
8. Dagegen behauptete Kulka, die RV habe sich eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt - Diese These stieß auf Widerspruch: O.D.Kulka: The Reichsvereinigung and the Fate of the German Jews 1938/39-1943. In: Arnold Paucker: Die Juden im nationalsozialistischen Deutschland. Tübingen 1986, ISBN 3-16-745103-3, S. 353/406.
9. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. München 1964, S. 161f.
10. Beate Meyer: Das unausweichliche Dilemma. S. 279, S. 283, S. 291-292.

Literatur

Beate Meyer: Das unausweichliche Dilemma: Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, Deportationen und die untergetauchten Juden. In: Beate Kosmala / Claudia Schoppmann (Hrsg.): Überleben im Untergrund. Berlin 2002, ISBN 3-932482-86-7
Beate Meyer: Handlungsspielräume regionaler jüdischer Repräsentanten (1941-1945). Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und die Deportationen. In: Die Deportation der Juden aus Deutschland. (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 20) Göttingen 2004, ISBN 3-89244-792-6
Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Band 1, Frankfurt /M 1990. ISBN 3-596-10611-7
Wolfgang Benz (Hrsg.): Die Juden in Deutschland 1933-1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. München 1988, ISBN 3-406-33324-9 (S.49-74)

Dieser Artikel basiert auf dem Artikel "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" aus der freien Enzyklopädie Wikipedia und steht unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

Weiteres Quellenwerk: LeMO

Andreas Jordan, November 2008

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