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Die frühen Jahre

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Die Nachkriegszeit

Bild: DM-Auszahlung der Stadt-Sparkasse in der Gaststätte

Bild: DM-Auszahlung der Stadt-Sparkasse in der Gaststätte "Gute Stuben" an der Ringstraße/Ecke Vohwinkelstraße

In Gelsenkirchen waren im Frühjahr 1945 von den ehemals 92.000 Wohnungen nur noch 42.000 bewohnbar. Da täglich Menschen in das Ruhrgebiet strömten, wurde das Wohnungsproblem dringlicher.

Es waren Personen, die vor den Bombenangriffen aufs Land geflüchtet waren und nun wieder in ihre Heimatstädte zurückkehrten, entlassene Kriegsgefangene und Flüchtlinge aus den Ostgebieten. Um die Situation in den Griff zu bekommen, wurden Zuzugsverbote erlassen. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hauste in notdürftig hergerichteten Wohnungen, Nissenhütten und Kellern. Das Fehlen sanitärer Einrichtungen und die daraus resultierenden unzureichenden hygienischen Verhältnisse begünstigten Typhus und Ruhr. Zudem kam die Energie- und Wasserversorgung fast zum Erliegen, da Kraftwerke und Leitungen durch die Kriegseinwirkungen ebenfalls stark zerstört waren. Neben der Wohnungsnot stellte die Lebensmittelversorgung das größte Problem dar. Die Rationen, die es auf Bezugsmarken gab, waren so gering, daß Kinder und Erwachsene unter Mangelerscheinungen litten.

Die Lebensmittelknappheit zwang die Menschen, sich illegal Nahrungsmittel zu beschaffen. Hunderte versuchten täglich auf Hamsterfahrten die ihnen noch verbliebenen Wertsachen bei Bauern gegen Kartoffeln, Eier und Gemüse zu tauschen. Wer es sich leisten konnte, bediente sich auf dem Schwarzmarkt, der trotz der Wucherpreise und regelmäßigen Razzien bis zur Währungsreform im Juni 1948 allerorts florierte. Berühmt-berüchtigt war der Schwarzmarkt im Bulmker Park, wo es erstaunlicherweise alles, was knapp war, dennoch zu kaufen gab.

Die vielbeschworene "Stunde Null" hat es somit nicht gegeben. Der neue Anfang allerdings war von Entbehrungen, Engpässen und Improvisation gekennzeichnet.

Aus: "Arbeiten und nicht verzweifeln" Gelsenkirchen 1945-1956. Heinz Jürgen Priamus in Zusammenarbeit mit Holger German, Dieter Host, Nobert Silberbach. Klartext, 1999.


Feuersturm und Hungerwinter

Zeitzeugen erinnern sich an Krieg und Hungerwinter

Der Tag, an dem die Amerikaner von Gelsenkirchen-Erle über den Kanal nach Bismarck kamen, ist für mich unvergesslich. Ich war zehn Jahre alt, und da wir total ausgebombt waten, wohnten wir am Bismarckhain (heute Ruhrzoo) in einer Wohnbaracke, deren Mietet evakuiert waren. Es war eine schlimme Schießerei von deutschen und amerikanischen Soldaten. Ich war mit Opa, Tante und einer anderen Familie im Luftschutzkeller der Baracke. Wir Mädchen waren zu zweit in einem Bett. Plötzlich kratzte etwas an der Tür. Ich hatte große Angst. Als die Tür aufging, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben einen farbigen, schwarzen Menschen. Er lachte und sagte: "Nicht weinen, kleines Mädchen. Möchtest du Schokolade?" Und ob ich wollte! Er sprach ein reines Deutsch. Später habe ich oft den Amerikanern bei Übungen zugesehen. Ein Offizier schenkte mir dann öfter eine Tüte mit Lebensmitteln und Süßigkeiten. Angeblich sah ich seiner Tochter in Amerika sehr ähnlich.

Christel Kutsch


Ich ging morgens wie alltäglich zu meiner Arbeitsstelle ins Evangelische Krankenhaus in Gelsenkirchen. Ich hatte als einzige Dienstkraft eine Krankenhaus-Verwaltungslehre absolviert, und man hatte mir danach die Verantwortung für die Abteilung „Patientenaufnahme" übertragen. Hier hatte ich das volle Ausmaß der Bombenangriffe, insbesondere des Großangriffs am 6. November 1944, erleben müssen, als man Bombenverletzte in nicht endender Folge ins Krankenhaus einlieferte.

Die Männer des Sicherheits- und Hilfsdienstes (SHD) schafften es kaum, die vielen Verletzten über die hohen Treppenstuten ins Haus zu bringen, so dass auch Krankenpfleger und andere, auch ich selbst, die Bahren hinaufzuschleppen halfen. Es waren schon am Morgen so viele Patienten eingetroffen, dass wir die Bahren auf dem langen Flur zum Behandlungsraum nebeneinander ablegten. Die Verletzten waren aus Trümmern herausgebuddelt worden. Ich hätte sie nicht als Lebende angesehen, wenn nicht aus den verdreckten Bündeln noch Stöhnen oder Jammern zu hören gewesen wäre. Was mir unvergesslich geblieben ist, war eine Begebenheit, als ein verzweifelt wirkender Mann nach seiner Frau und seinen Kindern fragte. Er hoffte, sie hier unter den Verletzten zu finden. Die aufgenommenen Verletzten waren zu der Zeit gar nicht in der Lage, ihre Personalien anzugeben. Aber der Krankenpfleger, der mithörte, sagte mir, dass er einen Waschkessel in die Leichenhalle geschafft habe.

Er fragte den Mann, ob er sich traue, sich den Kessel anzusehen. Er kam zurück und berichtete, dass ein Kleiderfetzen zum Kleid der gesuchten Frau gehörte. Es wurden an dem Vormittag von dem Chefarzt, einem Assistenten und auch von dem Leiter der gynäkologischen Abteilung ungezählte Amputationen durchgeführt. Es gab für Ärzte und Schwestern keine ruhige Minute.

Es war 13.30 Uhr, als die Sirenen Bombenalarm ankündigten. Gelsenkirchen wurde im Großangriff bombardiert. Es war herrliches "Wetter, richtiges Fliegerwetter für die Bomber. In den Kellergängen lagen die Patienten nebeneinander aufgereiht. Ich suchte mit anderen Helfern einen Kellerraum auf. Dann fielen die Bomben. Beinahe 40 Minuten hat der Angriff gedauert. Seltsamerweise kam es mir vor, als wären es nur wenige Minuten gewesen. Ich weiß aber noch, dass viele Mädchen um mich herum schrien und dass jemand immer wieder um Ruhe bat. Dass auf einmal die Tür aufsprang und dichte Staubwolken in den Kellerraum eindrangen. Entwarnung gab es nicht mehr. Wir mussten uns aus dem Kellerraum freischaufeln und kamen deshalb sehr unsicher und verängstigt heraus. Der Nachbarkeller war durch einen Bombeneinschlag zerstört. Wir konnten nur noch Verletzte und sieben Tote herausholen.

Vor und hinter dem Krankenhaus waren riesige Bombentrichter, über die ich hinweg stolperte. Ich dachte an meine Angehörigen in der Hoffnung, sie noch lebend anzutreffen. Ich versuchte, nach Hause zu kommen, aber in das Wohngebiet zu gelangen, war ganz unmöglich. Keine Straße war frei. Überall waren Bombentrichter zu überwinden. Berge von Trümmern bedeckten die Straßen, und zu beiden Seiten brannten die Häuser lichterloh. Auch auf Umwegen konnte ich nicht in das Wohngebiet gelangen und dachte voller Angst daran, trotzdem durch die brennenden Trümmer hindurch zu laufen. Ich schaffte es bis zum Kaiserplatz. Die Augen tränten schon — und genau da traf ich meinen Bruder.

Elfriede Neumann


Eines Tages im Sommer 1945 sind wir mit unserem Hab und Gut auf der Ladefläche eines Lkw wieder nach Gelsenkirchen gebracht worden. Der Lkw hatte, wie damals üblich, weil es kein Benzin gab, einen Holzvergaser. Unser Haus stand noch. Nur in den Fenstern waren Bretter statt Glasscheiben wie überall. In unserer Wohnung wohnten zwei ausgebombte Familien. Alle rückten zusammen, so dass wir auch noch Platz fanden. Bald zog dann aber eine Familie wieder aus. Mit der anderen haben wir dann noch ziemlich lange zusammen gewohnt. Das Haus gegenüber war total zerstört. Die Eigentümer haben sich auf ihrem Trümmergrundstück mit den Steinen, von denen sie den Mörtel abgeschlagen hatten, ein kleines Häuschen als Notunterkunft gebaut.

Gelsenkirchen war stark zerstört. Wir Kinder spielten auf den Trümmergrundstücken, zum Beispiel dem der "Blauen Villa" an der heutigen Virchowstraße, kletterten in den Ruinen herum oder bauten Buden. Sicher nicht ganz ungefährlich, das Spielen in den Trümmern. Aber uns ist nichts Schlimmes passiert.

Mich überkam aber immer ein bedrückendes Gefühl, wenn ich die zerstörten Häuser, Kirchen und Krankenhäuser sah. Die schönen Geschäfte der Bahnhofstraße waren zu Ruinen geworden. In dem Radio- und Fahrradgeschäft Siem, etwa da, wo heute das Boecker-Haus steht, haben wir in den Trümmern nach brauchbaren Teilen zum Basteln gesucht und auch gefunden. In dem Geschäftshaus Ecke Bahnhofstraße / Beskenstraße richtete sich ein Amerikahaus ein, um uns amerikanische Kultur nahe zu bringen. Wir waren dafür wohl sehr empfänglich und sind es offenbar auch heute noch. Im instandgesetzten Kino Industrietheater an der Hauptstraße wurde wieder ein Film gezeigt, "Die Frau gehört mir", ein Western in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln. Langsam kam wieder Leben in den zerstörten Städten auf. Der Wiederaufbau begann, und es wurde von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr besser.

Hans Georg Pobolisay

Zitat aus "Feuersturm und Hungerwinter", erschienen bei Klartext, 2007.


Andreas Jordan, März 2009

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