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Der Wildenbruchplatz, die Ausstellungshalle und die Erinnerungskultur

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Ein fast vergessener Erinnerungsort

Bild: Junkers Luftbild, Rundhalle auf dem Wildenbruchplatz Abb.: Rundhalle auf dem Wildenbruchplatz

Die Ausstellungshalle wurde 1925 mit einer Kochkunst und Gewerbeausstellung eingeweiht. In den ersten Jahren fanden dort überwiegend Ausstellungen statt, nach 1933 wurde sie zu einer Stätte nationalsozialischer Massen- und Propagandakundgebungen. Ende Januar 1944 wurde die Halle aus "Luftschutzgründen" abgerissen.

Ehemalige Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz war temporäres 'Judensammellager'

Abb.: Marschierende Kolonnen des "Reichsarbeitsdienstes" vor der Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz in Gelsenkirchen


Selbstmord angesichts der bevorstehenden Deportation

Bild: Grabstein für Hulda Silberberg auf dem Jüdischen Friedhof in Gelsenkirchen-Ückendorf Abb.: Grabstein für Hulda Silberberg auf dem Jüdischen Friedhof in Gelsenkirchen-Ückendorf

(...) Hulda Silberberg, einzige Schwester des Vaters von Helmut Silberberg, der sich seit Kriegsende Ed Silverberg nennt, wurde von den Nazis in den Tod getrieben. Angesichts der bevorstehenden Deportation beging sie am 3. Januar 1942 im Alter von 58 Jahren Selbstmord. Sie stach sich eine Gabel in die Halsschlagader. Hulda Silberberg wurde auf dem jüdischen Friedhof Gelsenkirchen-Ückendorf begraben. Der "Deutsche Reichsanzeiger" vom 31. Mai 1943 veröffentlicht ihre Enteignung: Hulda Silberberg, geboren am 24.05.1883 in Schubin, Vermerk "Jüdin". Datum der Verfügung 20. Juli 1942, Unterzeichner: Röer/Münster. (...)

Die Gelsenkirchener Jüdin Helene Lewek, geboren am 29. Juli 1881 in Mikstat, wählte in der Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz angesichts der bevorstehenden Deportation die Flucht in den Tod. An Helene Lewek sollen in Gelsenkirchen schon bald Stolpersteine erinnern.

Die erste Deportation aus Gelsenkirchen

Der erste und auch gleichzeitig der größte Deportationstransport aus Gelsenkirchen fand am 27. Januar 1942 statt. 355 jüdische Gelsenkirchener beiderlei Geschlechts wurden zunächst - sichtbar für alle - auf dem Wildenbruchplatz in der dortigen Ausstellungshalle gesammelt. Viele von ihnen mussten für Ihre "Evakuierung nach dem Osten" sogar ihre Fahrkarten selbst bezahlen. Am Güterbahnhof stiegen sie in die Züge - es waren Personenzüge - und wurden in das Ghetto nach Riga geschafft. In Dortmund wurden weitere Waggons angehängt. Ein zweiter Transport ging am 31. März 1942 nach Warschau, ein dritter am 27. Juli 1942 nach Theresienstadt. Im September 1944 folgte ein weiterer Transport. Insgesamt haben von 615 deportierten Juden aus Gelsenkirchen nur 105 überlebt.

Bild: Die Ausstellungshallen in einem britischen Stadtplan von 1943Abb.: Die Ausstellungshallen in einem britischen Stadtplan von Gelsenkirchen, 1943

Die Chronik der Stadt Gelsenkirchen verzeichnet für den 27. Januar 1942:

"In den städtischen Ausstellungshallen ist ein Judensammeltransport zusammengestellt worden. Es handelt sich um 506 Juden aus dem Präsidialbezirk Recklinghausen, die heute nach den Ostgebieten evakuiert werden. Unter ihnen befinden sich 350 Personen aus Gelsenkirchen. Vorerst verbleiben in unserer Stadt noch 132 meist alte und kränkliche Juden". Die Stadtchronik verzeichnet in 1944, 5. Woche:

"Aus Luftschutzgründen sollen alle Holz- und Steinzäune in der Innenstadt niedergerissen werden, ebenso Schuppen und andere kleine Gebäude, die die Brandgefahr fördern und im Ernstfalle hinderlich sein könnten. Unter diese von Kreisleiter Plagemann als öffentlicher Luftschutzleiter angeordnete Maßnahme fiel auch die Beseitigung des großen Holzbaus der Ausstellungshalle auf dem Wildenbruchplatz".

Bild: In Zelten wird 1950 auf dem Wildenbruchplatz eine Ausstellung abgehalten Abb.: In Zelten wird 1950 auf dem Wildenbruchplatz eine Ausstellung abgehalten

Bereits kurz nach dem Krieg wurde dieses städtische Grundstück, der ehemalige Standort der Ausstellungshalle, wieder öffentlich genutzt.

Bild: Volksfest auf dem Wildenbruchplatz, 1959 Abb.: Volksfest auf dem Wildenbruchplatz, 1959

Jahrzehntelang wird der Wildenbruchplatz zu den verschiedensten Anlässen und öffentlichen Vergnügungen genutzt: Kirmes, Wochenmärkte, Austellungen, Zirkus-Gastspiele und mehr.

Bild: Osterkirmes auf dem Wildenbruchplatz, 1972 Abb.: Werbung für die Osterkirmes auf dem Wildenbruchplatz aus dem Jahr 1972

Niemand wollte mehr an die Geschehnisse an diesem Ort denken, an dem die allermeisten der Gelsenkirchener Juden gesammelt wurden, um von dort in einen gewaltsamen Tod deportiert zu werden.

Bild: Aus den Ruhr-Nachrichten, 1960 Bild: Aus den "Ruhr-Nachrichten", 1960. Dieser Artikel aus den Ruhr-Nachrichten spiegelt den damaligen Zeitgeist wieder. Niemand dachte mehr an den Ort, wo sich die allermeisten der Gelsenkirchener Juden versammeln mußten, um von dort in den Tod deportiert zu werden.

Heute wie damals erinnert nichts an diese Menschen, hunderte Gelsenkirchener Juden, Kinder, Frauen und Greise, die an diesem Ort, in dieser Halle gesammelt und zusammengepfercht wurden, um vom nahegelegenen Güterbahnhof mit der "Reichsbahn" in die Vernichtungslager deportiert zu werden. Sie wurden dort, für alle sichtbar, gesammelt, um sie dem sicheren Tod zuführen zu können. Nach Riga, in das KZ Theresienstadt oder in das Ghetto von Warschau und andere Orte.

Bild: Aus der WAZ, 1985

Aus dem neben stehenden WAZ-Artikel: "Während des 'Dritten Reiches' missbrauchten die Nazis diesen Gebäudekomplex für ihre propagandistischen Großveranstal- tungen und in den Jahren 1941/42 als Sammellager für Juden, die in die Ghettos von Warschau, Riga und Auschwitz verschleppt wurden. Sogar Reichspropagandaminister Dr. Goebbels besuchte einmal die Hallen". Das ganze veranlasste die Chronistin seinerzeit zu der Äuße- rung: "Die Veranstaltungshallen bildeten den Mittelpunkt des politi- schen und damit des Gelsen- kirchener Volkslebens schlechthin."

Dem Vergessen entrissen

Und doch gab es Überlebende, Menschen, die das Grauen überleben konnten. Menschen auch aus Gelsenkirchen, die von den schrecklichen Geschehnissen aus ihrer eigenen Sicht, aus eigenem Erleben berichten konnten. Die meisten von uns kennen, wenn überhaupt, zumeist nur die Schilderungen die Aussagen der Täter.

Lesen sie Auszüge aus den lebensgeschichtlichen Erinnerungen von Bernd Haase, Herman Neudorf und Kurt Neuwald. Menschen aus Gelsenkirchen, die es geschafft haben, das Grauen zu überleben. Das Grauen, das in den Ausstellungshallen am Wildenbruchplatz nur eine Zwischenstation machte. Menschen, die sich nach über 60 Jahren noch immer sehr genau an diese Austellungshallen in Gelsenkirchen erinnern.

Bernd Haase berichtet:

"Im Dezember 1941 wurden meine Mutter, meine Schwester und ich aufgefordert, unsere Habseligkeiten für eine Umsiedlung nach Osten zusammenzupacken. Wir kennzeichneten unsere Möbel und packten Bettzeug und Kleidung in Rucksäcke. Am Abreisetag packten wir noch Butterbrote ein. Es kam ein Bus und brachte uns zur Gelsenkirchener Ausstellungshalle. Für unsere Nachbarn fuhren wir äußerlich normal weg.

Nur ein kleiner Zwischenfall: Es hatte geschneit und das Auto von einem der Nazi-Bonzen kam nicht weiter. So mussten ich und ein paar Andere den Wagen bis zur Arminstrasse schieben. Doch fühlte ich mich für eine halbe Stunde frei. In der Ausstellungshalle mussten wir wie Tiere auf dem strohbedeckten Boden liegen. Am fünften Tag, früh am Morgen, mussten wir durch Schnee und Dunkelheit zum Güterbahnhof marschieren. Dort schickte uns die Gestapo in einen Personenzug, brüllend und Peitschen schwingend. Wir wurden durchsucht und unser Geld und andere Wertgegenstände wurden uns weggenommen. Wir hatten unsere Rucksäcke mit im Zugabteil, unsere Koffer und die Haushaltsgegenstände wurden in einen angehängten Waggon gepackt. Dieser Wagen wurde später abgekoppelt und sein Inhalt an Fremde verteilt. Langsam verließ der Zug Gelsenkirchen. In Dortmund wurden weitere Waggons angehängt, so dass wir etwa 1.100 Seelen waren. Als der Zug immer nach Nordosten kam, wurden die Heizungen abgestellt. Die Toiletten froren ein und es begann ein wirklicher Jammer. Die Fahrt endete in Riga, Lettland. Erst waren wir im Ghetto, dann im Konzentrationslager."

Herman Neudorf berichtet:

"Am 20. Januar 1942 kommt wieder ein Schreiben: "Sie haben sich zum Transport nach dem Osten in den nächsten drei Tagen bereitzuhalten."

Nun ist es soweit. Am 22. Januar um 10 Uhr morgens wurden wir von der Gestapo abgeholt und in einen Autobus verfrachtet, mit je einem Koffer. Im nu sammelte sich um das Auto eine Anzahl Schulkinder. Auf ihre neugierige Frage, wohin wir fahren, antwortete der Gestapo-Chauffeur: "Zur Erholung in ein Sanatorium."

Am Sammelplatz schliefen wir eine Nacht am Boden und am nächsten Tag wurden wir verladen. Aber diese Mörder wußten zu gut, wohin unsere Fahrt führt. Hoher Schnee mit ca. 25 Grad Kälte. Der Zug stand bereit. Ungeheizt. Am Ende des Zuges wurden drei Wagen mit unseren Koffern, Verpflegung und Küchengeräten angehängt. Dann fuhren wir ab. Türen natürlich abgeschlossen. Vor Hannover erfuhren wir, daß die letzten Wagen "heißgelaufen" waren und abgehängt werden mußten. Nun besaßen wir nur noch das, was wir am Leibe trugen. Sechs Tage Fahrt durch Ostpreußen, Litauen, Lettland. Aborte verstopft, die Abteilwände mit einer Eisschicht überzogen. Am 1. Februar erreichten wir unsere neue Heimat.

Der Transport hielt am Bahnhof Riga-Skirotava. Auf uns warteten schon SS-Leute in dicken Pelzmänteln. Sie trieben uns mit Schlägen und Gebrüll aus dem Zug. Die Glieder waren noch starr vor Kälte. Zum Teil mit Autos oder zu Fuß ging es ab. Ungefähr drei Stunden Marsch. Lettische Wachen hüteten uns sorgfältig und rissen einigen gute Kleidungsstücke vom Leibe herunter."

Kurt Neuwald berichtet:

"Wir mußten hier im Tiefbau und auf der Zeche arbeiten und zwar täglich 10 - 12 Stunden, samstags und sonntags auch. Ich kann Ihnen das aus eigener Erfahrung sagen. Man verdiente zwischen 40 Pfennig und 70 Pfennig in der Stunde. Im Januar 1942 begannen die Deportationen und zwar wurden die ersten am 27.1.1942 deportiert, nämlich 353 Juden nach Riga. Am 27.7.42 wurden die alten Leute, die meistens krank waren und in Krankenhäusern oder zuhause siech lagen, nach Theresienstadt und von dort nach Auschwitz deportiert. Davon sind 4 zurückgekommen.

Denn nach dem 9. November 1938 wurden ja viele jüdischen Männer verhaftet und kamen nach Sachsenhausen. Einige Zeit später erhielten mehrere Frauen die Mitteilung: Wenn Sie 20 Mark einschicken, können sie die Urne ihres Mannes bekommen. Und davon sind 13 Urnen hier nach Gelsenkirchen zurückgekommen. Wir haben da genaue Listen drüber, auch von den Überlebenden, wobei man allerdings von 102 Leuten nichts genaues weiss. Der zweite Transport waren dann hauptsächlich ältere Leute. Sie wurden am 31. März 1942 nach Warschau transportiert. Von diesen ist keiner zurückgekehrt. Von dem Riga-Transport, zu dem ich auch gehörte, haben ca. 40 überlebt und ein Teil ist nach Gelsenkirchen oder ins übrige Deutschland zurückgekehrt. Dann kam der letzte Transport und damit war Gelsenkirchen sozusagen 'judenrein'".

Erinnerungsort an der 'Behördenallee'?

Und heute? Im Jahr 2009 erinnert an der mehr oder minder neu geschaffenen Gelsenkirchener "Behördenallee" noch immer nichts an diesen Gelsenkirchener Tatort, an dem für die meisten der Gelsenkirchener Juden eine Reise ohne Wiederkehr begann. Sicherlich ein weiterer geeigneter Standort für eine Erinnerungsafel des stadteigenen Erinnerungsorte-Projekts. Der Verein GELSENZENTRUM wird sich für die Errichtung einer Gedenktafel einsetzen.

Wie es dann weiter ging

Ehemalige Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz war temporäres 'Judensammellager' Abb.: Screenshot WAZ, 2014.

+ + + Update 0ktober 2021: In Gesprächen mit Verantwortlichen aus Politik und Stadtverwaltung (2009) wurde zunächst unter Verweis auf das vorhandene Mahnmal im Stadtgarten eher ablehnend reagiert. Wir verlegten daraufhin einen Stolperstein im Gedenken an Helene Lewek" (2010) am ehemaligen Standort der Ausstellungshalle. In 2014 reichten wir in Person unseres Vorsitzenden Andreas Jordan einen Bürgerantrag nach § 24 GO NRW ein, Zielsetzung: den Wildenbruchplatz zu einem Erinnerungsort zu machen, bspw. in Form einer Gedenktafel. Die WAZ Gelsenkirchen berichtete am 19. März 2014 darüber. Der Bürgerantrag verschwand dann für weitere Jahre in den Schubladen der Gelsenkirchener Stadtverwaltung.

Nach Bitte um Sachstandsmitteilung wurde dann 2019 von Seiten des Instituts für Stadtgeschichte (ISG) mitgeteilt, das man "im Gespräch mit potentiellen 'Sponsoren' sei und schon bald mit der Errrichtung einer Erinnerungsorte-Tafel gerechnet werden könne. Diese soll nunmehr am 27. Januar 2022 der Öffentlichkeit übergeben werden. Es ist zu begrüßen, dass der Bürgerantrag aus 2014 nun endlich umgesetzt wird. Unrühmlich für die Gelsenkirchener Stadtverwaltung ist es jedoch, wenn jetzt in offiziellen Verlaut- barungen und Medienmitteilungen der initiierende Bürgerantrag unerwähnt bleibt.

Ehemalige Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz war temporäres 'Judensammellager' Abb.: Gedenkort Wildenbruchplatz. Die Errichtung dieses Gedenk- und Erinnerungsortes geht auf einen 2014 gestellten Bürgerantrag zurück.

Der Opfer gedenken, Faschismus verhindern, Demokratie stärken.

Abb.: Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz, 1942 temporäres "Judensammellager" - von dort wurden die Menschen durch Gelsenkirchens Straßen zum Güterbahnhof getrieben. (Luftbild: Stadt Gelsenkirchen, Repro A. Jordan)

Quellen:
Grafik Stadtplan: Alan Godfrey Maps, Leadgate, UK
Lebensgeschichtliche Berichte von Bernd Haase, Herman Neudorf und Kurt Neuwald,
Vgl. auch: Stefan Goch, Jüdisches Leben. Klartext Essen, 2004.
Edit. 4/2024: Screenshot aus „Unterm Hakenkreuz - Westfalen 1933-1945 im Amateurfilm“

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Andreas Jordan, April 2009. Editiert 2/2022

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