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Gedenken der Pogromnacht am 9. November 2005


Rede von Oberbürgermeister Baranowski:

Grabstein auf einem jüdischen Friedhof

Bild: Grabstein auf dem jüdischen Friedhof in Gelsenkirchen-Bulmke, Wanner Sraße

Der 9. November ist ein Tag des Erinnerns und der Besinnung. Es ist kein Tag an dem ein öffentliches, immer wiederkehrendes Gedenkritual abgehalten werden sollte. Tatsächlich ist das häufig so und das führt dazu, dass viele nicht verstehen, warum es so wichtig ist, sich zu erinnern und sich zu besinnen. Damit der 9. November in Gelsenkirchen nicht zu einem Ritual, einer Pflichtveranstaltung ohne Sinn wird, wurde vor einigen Jahren begonnen, an diesem Tag Orte aufzusuchen, die Geschichte anschaulich machen und die jedes Jahr einen anderen Aspekt des Verbrechens hervorheben, das unter den Nationalsozialisten an Juden verübt wurde.

Heute stehen wir an der Rampe des Güterbahnhofs, von dem aus Hunderte Juden aus Gelsenkirchen und der Umgebung in den Tod geschickt wurden. Der größte Transport aus unserer Stadt fand am 27. Januar 1942 statt. 355 jüdische Mitbürger wurden zunächst - sichtbar für alle - auf dem Wildenbruchplatz gesammelt. Viele mussten für Ihre "Evakuierung nach Osten" sogar die Fahrkarte bezahlen. Hier im Güterbahnhof stiegen sie in die Züge - es waren Personenzüge - und wurden nach Riga geschafft. Der Transport der jüdischen Bevölkerung in die Lager ging also ganz geordnet und ohne größere Zwischenfälle ab. Viele ahnten, was Ihnen bevorstand, doch wahrhaben wollte es kaum einer. So wurden über 600 Bürger unserer Stadt deportiert. Alte und Kranke waren ebenso dabei wie Kinder. Nur wenige überlebten die Konzentrationslager, nur eine Hand voll - etwa unser Ehrenbürger Kurt Neuwald - kehrte nach Gelsenkirchen zurück.

Die Transporte und die anschließende Tötung der meisten Deportierten waren der letzte Schritt. Zuvor waren Juden in Deutschland systematisch diskreditiert, benachteiligt und verfolgt worden. Insgesamt wurden im NS-Regime etwa 2.000 antijüdische Gesetze oder Ergänzungsverordnungen erlassen. So wurde das jüdische Leben in den 30er Jahren nach und nach unmöglich gemacht.

Mit der Abschiebung von 17.000 Juden nach Polen im Oktober 1938 wurde der Druck auf die deutschen Juden erhöht, auszuwandern. Ein 17jähriger Jude, dessen Familie unter den Abgeschobenen war, verübte am 7. November 1938 in Paris einen Mordanschlag auf den deutschen Diplomaten Ernst vom Rath. Sein Tod lieferte Joseph Goebbels, unter Hitler Minister für "Volksaufklärung und Propaganda", den Vorwand für die so genannte "Reichskristallnacht".

In der Pogromnacht vom 9. zum 10. November ermordeten Nationalsozialisten etwa 100 Juden, zerstörten über 2.500 Gottes- und Gemeindehäuser und verwüsteten rund 7.500 jüdische Geschäfte. In Gelsenkirchen brannten die Synagogen in der Altstadt und in Buer; zahlreiche Geschäfte wurden zerstört. Die nichtjüdische Bevölkerung reagierte reserviert auf die Pogrome. Nur wenige Menschen, die nicht der SA oder SS angehörten, beteiligten sich aktiv an den Zerstörungen und Verfolgungen. Aber es waren auch nur wenige, die ihren jüdischen Nachbarn halfen, sich gegen den Staatsterror des NS-Regimes stellten.

Meine Damen und Herren, die so genannte "Reichskristallnacht" steht heute für die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten. Sie ist aber auch ein Beispiel dafür, was passiert, wenn die Bevölkerung weg sieht. Deshalb wollen wir heute einerseits an den Völkermord und den Terror der Nationalsozialisten erinnern, andererseits aber dazu aufrufen, durch Engagement und Zivilcourage gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit einzutreten.

Ich freue mich, dass heute so viele hierher gekommen sind und sich damit zu diesen Zielen bekennen, und möchte die Gelegenheit nutzen, auf einige ähnliche Veranstaltungen hinzuweisen. Im Polizeipräsidium in Buer ist seit heute eine Ausstellung zu sehen, die das jüdische Leben in Gelsenkirchen zum Thema hat. Dabei geht es auch um den Neubau der Synagoge in unserer Stadt, der nun endlich Formen annimmt, und den wir genau in einem Jahr einweihen wollen.

Der jüdische Kulturverein KINOR, der sich sehr stark für ein Miteinander der verschiedenen Religionen und Kulturen einsetzt, lädt am 23. November zu einer Buchpräsentation. Felix Lipski, der als kleiner Junge im Ghetto Minsk war, berichtet unter dem Titel "Existiert das Ghetto noch?" über den Widerstand in Minsk. Die Veranstaltung findet am 23. November um 19.00 Uhr im Internationalen Migrantenzentrum der AWO in der Paulstraße 4 statt. Die Falken veranstalten unter dem Motto "Raise ya voice" am 12. November ab 13.00 Uhr einen Hip Hop-Jam gegen Rassismus auf dem Heinrich-König-Platz.

Ich würde mich freuen, wenn diese Veranstaltungen eine ebenso große Resonanz finden würden, wie die heutige Demonstration. Denn damit wird ein Zeichen gesetzt, dass wir Intoleranz, Fremdenhass und Gewalt nicht akzeptieren. Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass wir als Hauptredner einen der namhaftesten Historiker Deutschlands gewonnen haben. Herr Professor Hans Mommsen beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Nationalsozialisten und hat unter anderem die Frage der Zwangsarbeit mit in den öffentlichen Fokus gebracht. Herr Professor Mommsen, ich freue mich, dass Sie heute bei uns sind und gebe Ihnen nun gerne das Wort. (Ende der Rede)

Andreas Jordan, Dezember 2006