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Die Hölle von Riga

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Spurensuche im Baltikum nach 60 Jahren

Als vor 60 Jahren, am 4. Juli 1941, in Lettland die Synagogen brannten, kamen bei der "Kristallnacht" auch Juden aus Franken um, die dorthin deportiert worden waren. Evangelische Christen aus Bayreuth haben sich bei einer Studienfahrt in Riga auf Spurensuche begeben.

Abram Kit

Bild: Abram Kit. (Foto: Björn Mensing)

Skirotava, ein Rangierbahnhof etwa acht Kilometer südöstlich von Rigas Innenstadt, 2. Dezember 1941 - über tausend Juden aus Franken werden nach dreitägiger Fahrt in überfüllten Zügen aus ihren Abteilen herausgetrieben. Unter den Deportierten, die bei klirrender Kälte in ungeheizten Baracken des nahen Lagers Jungfernhof untergebracht werden, ist auch die Bayreuther Familie Reinauer. Das Ehepaar Leopold und Friedel Reinauer mit Sohn Max, 17 Jahre, und Tochter Hanneliese, 13 Jahre, war am 27. November 1941 zusammen mit 42 anderen Juden von Bayreuth ins Sammellager Nürnberg-Langwasser gebracht worden, von wo aus sie zwei Tage später mit ihren Leidensgenossen die Reise ins Ungewisse antreten mussten. Skirotava, 12. Juni 2001 - neun Frauen und Männer aus Bayreuth und anderen fränkischen Städten suchen im Rahmen einer Studien- und Gedenkreise des Evangelischen Bildungswerks Bayreuth/Bad Berneck auf dem Bahnhof nach Spuren ihrer ehemaligen Mitbürger. Sie finden aber nur einen Gedenkstein für die auch von diesem Bahnhof aus unter der Sowjetherrschaft nach Sibirien deportierten Letten. Nichts erinnert daran, dass dies von November 1941 bis Dezember 1942 für über 20000 deutsche Juden der tragische Endpunkt einer qualvollen Reise und für ungefähr 2000 alte und schwache Menschen, die unfähig waren, sich fortzubewegen, der Ort ihrer Erschießung und ihrer Massengräber war. Insgesamt überlebten nur einige Hundert der ins Baltikum Deportierten den nationalsozialistischen Massenmord, von den 46 Bayreuthern nur Friedel und Hanneliese Reinauer sowie das Ehepaar Kosterlitz. Die deutsche Reisegruppe wird bei ihrer Spurensuche begleitet von Abram Kit, der vor Ort auch sein eigenes Schicksal schildert.

Der Tod, den Abram Kit überlebte

Als die Deutschen wenige Tage nach dem Überfall auf die UdSSR am 1. Juli 1941 Riga einnahmen, lebte der damals Achtzehnjährige mit seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern in der Moskauer Vorstadt, einem armen Stadtteil von Riga, in dem viele jüdische Familien zu Hause waren. In seiner Familie sprach man jiddisch. Seine Eltern schickten ihn auf eine jüdische Schule, in der Iwrit die Unterrichtssprache war. Kits wird noch am Tag der deutschen Besetzung mit vielen anderen Juden zu Zwangsarbeiten herangezogen.

Auf dem Rückweg von der Arbeit in die Moskauer Vorstadt kommt sein Trupp am 4. Juli an der Großen Choralsynagoge vorbei. Nur der Umstand, dass in seinem Trupp Männer waren, die im Ersten Weltkrieg für die lettische Unabhängigkeit gekämpft hatten, bewahrt ihn davor, wie andere zufällig vorübergehende Juden in die Synagoge gesperrt zu werden. Auf Befehl des deutschen SS-Einsatzgruppenleiters Walter Stahlecker brannten lettische Kommandos an diesem Tag fast alle Synagogen nieder. In den Flammen fanden zahlreiche dort eingeschlossene Juden einen schrecklichen Tod. Für AbramKits war dies der erste Tod, den er überlebte, neun weitere sollten bis 1945 noch folgen. In den folgenden Wochen musste Kits in einer Wehrmachtskaserne arbeiten. In guter Erinnerung hat er den Feldwebel in der Küche, der ihn menschlich behandelte und ihm Nahrungsmittel zusteckte.

Ende Oktober 1941 verschlechterte sich die Lage der lettischen Juden erneut. Aus einem Teil der Moskauer Vorstadt, in dem zuvor etwa 13000 Menschen gelebt hatten, wurde ein umzäuntes Ghetto mit fast 30000 jüdischen Häftlingen. Kits Familie wurde in der Wohnung von Verwandten einquartiert. Als Kits am 30. November vom Arbeitseinsatz ins Ghetto zurückkehrt, bietet sich ihm ein grausiges Bild. Ein Teil des Ghettos ist geräumt, an der Straße liegen erschossene Alte, Kranke und Gebrechliche. Kits Familie lebt im anderen Teil des Ghettos und erhält am 8. Dezember den Befehl, sich abmarschbereit an der Straße aufzustellen. Ihnen wird gesagt, dass sie an einen anderen Ort verlegt werden. Nur junge, gesunde Männer sollten in Riga bleiben, darunter Kits und einer seiner Cousins.

Spuren der Verbrechen wurden getilgt

35 Familienmitglieder wurden am 8. Dezember aus dem Ghetto getrieben. Kit muss nach der Räumung die ermordeten Säuglinge aus dem Entbindungsheim tragen. Wenige Tage später erfährt er von Überlebenden, die sich unter den Leichen tot gestellt hatten, vom schrecklichen Schicksal seiner Angehörigen. Sie waren mit den anderen Insassen des Ghettos im Wald von Rumbula erschossen und in Massengräbern verscharrt worden. In dem lichten Wäldchen starben fast 28000 Menschen. Kits hat sich nach 1945 an der Pflege der Massengräber beteiligt, in denen irgendwo auch die Asche seiner Angehörigen liegt. Um die Spuren der Verbrechen zu tilgen, grub nämlich 1944 ein SS-Sonderkommando die Massengräber aus und verbrannte die Überreste der Opfer. Und noch die dabei übrigbleibenden Knochen wurden mit Knochenmühlen zermahlen.

Heute fährt Kit etwa ein Mal im Monat nach Rumbula, um dort besonders an seine Eltern, seine vier Schwestern und seinen jüngeren Bruder zu denken. In einem anderen Wald bei Riga erschossen und verscharrten die Nationalsozialisten im Februar und März 1942 einen Großteil der nach Riga deportierten deutschen Juden. In diesem Wald von Bikernieki gedachte die Gruppe an der neu angelegten Gräber- und Gedenkstätte aller Opfer des Holocausts in Lettland. Exemplarisch wurden die Namen der 42 ermordeten Bayreuther Juden verlesen. Abram Kit wurde im Herbst 1941 mit den anderen lettischen Arbeitssklaven ins "Kleine Ghetto" gesperrt. Im angrenzenden "Reichsjudenghetto" quartierte man einen Großteil der aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei nach Riga deportierten Juden ein.

"Entlassen" in die Zwangsarbeit

Familie Reinauer wurde im Juli 1942 ins Ghetto verlegt. Kits hatte Kontakte zu einigen deutschen Juden. Mit Ina aus Bielefeld, mit der er einen Monat lang den gleichen Weg zum Arbeitseinsatz hatte, freundete er sich an. Ansonsten waren die Haft- und Arbeitsbedingungen schlecht. Wegen des Hungers nahm Kit bei einem Arbeitseinsatz fünf Kartoffeln vom Schweinefutter und versuchte, sie ins Ghetto zu schmuggeln. Doch die Wache am Ghettotor durchsuchte ihn und fand die Kartoffeln. Er wurde zur Strafe zusammengeschlagen.

Bei einer besonders schweren Arbeit fiel Kit ein Stein auf den Fuß, so dass er wegen der Verletzung nicht weiterarbeiten konnte. Als der SS-Mann Stanke ihn in den Bunker sperren ließ, rechnete er fest mit seiner Hinrichtung. Schon mehrfach hatte er zusehen müssen, wie Mithäftlinge wegen Kleinigkeiten auf dem größten Platz im Ghetto erhängt wurden. Doch Kits wird am nächsten Tag "entlassen" und überlebt nach der Auflösung des Ghettos 1943 auch die Zwangsarbeit und die Haft in verschiedenen Konzentrationslagern, zuletzt in Stutthof bei Danzig.

Dorthin waren Ende 1944 auch Friedel und Hanneliese Reinauer vom KZ Kaiserwald verlegt worden. Vater Leopold war bereits 1943 von der Familie getrennt worden. Als sich in Folge der Haftbedingungen im KZ Salaspils sein Gesundheitszustand verschlechtert hatte, war er als arbeitsunfähig zusammen mit über 2000 Leidensgenossen von Skirotava aus in einem Viehwaggon nach Auschwitz transportiert worden, wo man ihn am 30. November 1943 in der Gaskammer ermordete. Sohn Max, der in einer SS-Werkstatt arbeiten musste, war am 22. Oktober 1944 in der lettischen Hafenstadt Libau bei einem Bombenangriff getötet worden.

Auf dem Todesmarsch

Der Todesmarsch von Stutthof nach Bromberg endete für Mutter und Tochter Reinauer am 26. Januar 1945 mit der Flucht der SS-Wachmannschaften. Auf Umwegen erreichten sie am 14. August 1945 auf der Ladefläche eines klapperigen LKW ihre Heimatstadt Bayreuth, wo die Mutter bis zu ihrem Tod 1986 lebte. Hanneliese wanderte in den siebziger Jahren mit ihrem Mann nach Israel aus, besucht aber noch regelmäßig Bayreuth. Ihre drei Töchter sind in Franken geblieben. Auch AbramKits kehrte nach der Befreiung durch die Rote Armee in seine Heimatstadt zurück. Seit sechs Jahren führt Abram Kit Gruppen zu den Schauplätzen des Grauens.

Dass er seit zwei Jahren monatlich 250 Mark Entschädigungsrente erhält, verdankt er auch dem Einsatz von Alexander Bergmann. Der promovierte Jurist hat als Vorsitzender des Vereins der ehemaligen jüdischen Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands seit 1993 fünf Jahre für eine Entschädigung durch die Bundesrepublik Deutschland gekämpft. Bergmann, der selbst seine Eltern und einen Bruder im Holocaust verloren hat und fast vier Jahre in Ghetto- und KZ-Haft leben musste, gehörte 1988 auch zu den Gründern der säkularen jüdischen Gemeinde Riga. Im vom Staat zurückgegebenen Gebäude des Jüdischen Theaters finden zahlreiche Angebote statt, die den etwa 11000 jüdischen Einwohnern Rigas nach den Jahrzehnten der Unterdrückung wieder jüdische Kultur und Tradition durch Gesang, Tanz und Theater näher bringen wollen. Daneben waren und sind die Errichtung einer jüdischen Schule und die Hilfe für die vielen bedürftigen Rentner, Kranken und Einsamen wichtige Anliegen. In einigen Räumen des Gebäudes baute der Holocaust-Überlebende und Historiker Margers Vestermanis ein Museum auf, das eindrücklich an die über 400-jährige Geschichte der Juden in Lettland und an die Opfer des Holocaust erinnert.

Abram Kit schickt seine deutschen Besucher aber auch zu "seiner" Synagoge. Die "Peitav Schul" überstand als einzige Synagoge in Riga die lettische "Kristallnacht" am 4. Juli 1941 nur deshalb relativ unbeschadet, weil in den engen Straßen der Altstadt das Feuer auf die benachbarten Häuser hätte übergreifen können. Die religiöse jüdische Gemeinde hat heute etwa 100 Mitglieder. Zu den hohen Feiertagen kommen aber weit mehr Juden in die schöne Synagoge. Trotz der regen Bemühungen der säkularen und der religiösen jüdischen Gemeinde sind in den letzten Jahren viele Juden aus Lettland ausgewandert - vor allem nach Israel, Deutschland und in die USA. Der Bruder von Alexander Bergmann lebt heute beispielsweise in Münster, seine Kinder in den USA.

Der Hauptgrund dafür liegt in der wirtschaftlichen Situation in Lettland. Die meisten Menschen leben am oder unter dem Existenzminimum. Sozialleistungen des Staates gibt es kaum. Die durchschnittliche Rente reicht oft gerade zur Zahlung der Miete. Hinzu kommt die Staatsbürgerschaftsfrage. Über die Hälfte der Juden in Lettland hat heute nicht die lettische Staatsangehörigkeit, weil sie beziehungsweise ihre Eltern nach 1945 aus anderen Republiken der UdSSR zugewandert sind. Sie teilen damit die Diskriminierung, der zur Zeit etwa 700.000 Menschen - zumeist Russen - ausgesetzt sind.

Leider sind auch antisemitische Vorurteile noch stark in weiten Kreisen der lettischen Bevölkerung verbreitet. So konnte im letzten Jahr in einer seriösen lettischen Zeitschrift ein Hetzartikel mit dem Titel "Juden regieren die Welt" veröffentlicht werden. Die Klagen gegen die Artikel blieben folgenlos. Eine wichtige Rolle spielt dabei immer noch die 1941 bis 1944 von den deutschen Besatzern gezielt gestreute Anschuldigung, die Juden hätten 1940/41 mit den sowjetischen Besatzern kollaboriert. Dabei entsprach der Anteil der Juden am stalinistischen Unterdrückungsapparat nicht einmal ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung, obgleich viele Juden in der sowjetischen Herrschaft das kleinere Übel gegenüber einer deutschen Okkupation sahen.

Skepsis und hoffnungsvolle Zeichen

Unter den 1941 nach Sibirien Verschleppten waren die Juden sogar überproportional vertreten. Wegen dieser verzerrten Sicht und der damit verbundenen Leugnung der lettischen Beteiligung am Holocaust geschah bisher recht wenig zur Aufarbeitung der Vergangenheit und zur Erinnerung an die jüdischen Opfer. Immerhin nahmen in diesem Jahr die Staatspräsidentin und der Ministerpräsident am Welttreffen der lettischen Juden teil. Alexander Bergmann bleibt aber skeptisch. Er sieht als Motive dafür eher die Besserung von Lettlands Image im Blick auf die erstrebte EU- und NATO-Mitgliedschaft. Dafür spricht auch die Tatsache, dass AbramKits bisher noch von keiner lettischen Gruppe um eine Führung gebeten worden ist. Aber es gibt auch hoffnungsvolle Zeichen. Mit staatlicher Unterstützung soll die Gräber- und Gedenkstätte der lettischen Juden in Rumbula bald würdig neu gestaltet werden.

Von Björn Mensing

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Das lange Warten des Abram Kit

Der lettische Jude Abram Kit hat den Holocaust überlebt und hofft noch immer auf eine Rente aus dem fernen Deutschland

Riga, im Oktober. Nur noch acht Kilometer bis Rumbula, und der kleine, gebeugte Mann trägt deutsche Balladen vor. Gleich wird er in diesem Wald bei Riga sein, aber Abram Kit rezitiert "Loreley" und "Erlkönig". Kurz nur ist die Fahrt, und eigentümlich unbefangen wirkt der lettische Jude. Es könnte auch anders sein. Denn er hat ein Leben gelebt, und Deutschland hat die Schatten darauf geworfen.

Kit steigt aus dem Auto und geht in den Wald. An verschiedenen Stellen stehen Steine zum Totengedenken. Es sind kleine Steine vor großen Gräbern. In einem haben die Nazis 7.000 Rigaer Juden verscharrt. In einem anderen 15.000. In einer dritten Grube liegen die Leichen von 2.000 Kindern. In der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem sind Millionen Namen von Opfern des Holocaust verewigt. Verzeichnet sind dort auch Kit, Moshe; Kit, Rahel; Kit, Sarah; Kit, Ida; Kit, Ljuba; Kit, Miriam; Kit, Schmul; Kit, Nachama; Kit, Deborah. Es sind die Eltern, die Schwestern, ein Bruder, ein Neffe und eine Nichte des Mannes, der jetzt vor den Massengräbern steht.

1941 lebten sie im Rigaer Ghetto, zusammen mit etwa 30 000 anderen Juden aus der Stadt. Dann kam der 30. November. An diesem Tag ist die erste Hälfte von den Nazis nach Rumbula getrieben worden. Dann kam der 8. Dezember. Da haben sie die zweite Hälfte zur Massenerschießung an die Gruben geführt. Es war der Tag, als die Familie Kit verschwand.

Ella Medalje weiß noch genau, wie es war. Zusammen mit Abram Kit ist sie im "Verein ehemaliger Ghetto- und KZ-Häftlinge Lettlands". Außer der 84jährigen Frau aus Riga lebt niemand mehr, der die Erschießungen gesehen hat. Sie ist eine von drei Jüdinnen, die vom Rand der Grube entkommen sind. Es war schon dunkel an diesem 8. Dezember, Schnee fiel, und es war kalt. "Ich gehörte zu den letzten, die an die Reihe kommen sollten. Da stand diese Kiste, in die wir die Schmucksachen werfen mußten. Da waren diese Berge von Schuhen, Mänteln, Hosen und Kleidern. Alles schön getrennt, nach deutscher Ordnung. Wir wurden verhöhnt und geschlagen. Wir weinten, und die waren alle besoffen. Cukurs (lettischer Kriegsverbrecher, der vom israelischen Geheimdienst Mossad 1965 in Uruguay umgebracht wurde - d. Red.) schrie: "Das sind alles Saujuden, heute muß das Blut der Juden fließen."

Ella Medalje sieht, wie die Menschen nackt zur Grube getrieben werden und hört das Maschinengewehr. Sie hat schon ihre Schuhe ausgezogen und will gerade ihren Mantel ablegen. Da kommt ihr diese Idee. Sie rutscht auf Knien zu einem SS-Offizier und fleht ihn an. Sie sagt immer wieder, daß sie keine Jüdin ist. Schließlich haben sie es ihr geglaubt. So hat Ella Medalje den Ort überlebt, an dem Abram Kits Familie gestorben ist. Er selbst wurde verschont, weil er noch für Deutschland arbeiten sollte. Daß er ganz durchkommt, war von den Nazis nicht vorgesehen.

Abram Kit ist ein doppeltes Opfer der Geschichte. Wie die anderen 81 jüdischen Überlebenden des Holocaust in Lettland und die schätzungsweise 13.000 in ganz Osteuropa. Bonn weigert sich, ihnen eine individuelle Entschädigung in Form einer monatlichen Rente zu geben. Solche Renten werden an jüdische Überlebende in Westeuropa gezahlt, in den USA oder Israel. Pensionen erhalten auch lettische SS-Angehörige, die im Krieg verwundet wurden und heute noch in Lettland oder anderen Teilen der Welt leben. Abram Kit geht nach wie vor leer aus.

Leben auf der falschen Seite

Bis der Eiserne Vorhang hochging, lebte Kit auf der falschen Seite. In Zeiten des Kalten Krieges gab es keine Wiedergutmachungsregelungen für die überlebenden Opfer in Osteuropa. Zu Beginn der 90er Jahre zahlte die Bundesrepublik schließlich in entsprechende Stiftungen und Fonds osteuropäischer Länder ein. Individuelle Entschädigungen durch Renten lehnt Bonn jedoch ab.

"Renten aus Deutschland", sagt Abram Kit, "sind für uns aber so notwendig wie die Luft zum Atmen. Es geht nicht um Wiedergutmachung. Das ist nicht möglich. Doch wir könnten dann wenigstens würdig unsere letzten Jahre verbringen." Mitte August dieses Jahres trug eine Delegation der Jewish Claims Conference die Forderungen der jüdischen Holocaust-Überlebenden Osteuropas bei Kanzleramtsminister Bohl vor. Eine Einigung gab es nicht. Seit gestern wird zwischen beiden Seiten in Bonn erneut verhandelt.

Als die lettischen Überlebenden ihren Kampf um Unterstützung vor sieben Jahren mit einem Brief an Richard von Weizsäcker begannen, waren sie 132. Jetzt sind sie 82. Das Durchschnittsalter ist 72 Jahre. Wie es also sein wird, weiß Abram Kit nicht. Er hat Hoffnung und dann wieder nicht. Trotzdem bereitet er den Tag vor, an dem Bonn sich bereit erklärt, Renten zu zahlen. Er wird dann beweisen müssen, daß er mindestens anderthalb Jahre im Ghetto war und ein halbes Jahr im Konzentrationslager.

Abram Kit wohnt mit seiner Frau im vierten Stock eines grauen Plattenbaus am Rand von Riga. Sie haben ein kleines Zimmer und eine kleine Küche. In der Wohnung ist ihre Armut zu kleiner Bescheidenheit hochgeschmückt. Vor 22 Jahren haben sie noch in der neunten Etage gewohnt. Dort konnte Kit über die Bäume das frühere Außenlager Strassenhof des KZ Kaiserwald sehen. Da hatten ihn die Nazis ein Jahr lang wie Vieh gehalten. Die Erinnerungen führten zu Alpträumen und Schreianfällen. Es wurde erst besser, als sie die Wohnung tauschten.

Vor der Zeit in Strassenhof lebte Kit mit 2 000 anderen jüdischen Arbeitssklaven im Rigaer Ghetto. "Wir hatten Angst vor dem Kommando Stützpunkt. Das bedeutete, die Ermordeten von Rumbula auszugraben und zu verbrennen. Anschließend wurde das Arbeitskommando jeweils selbst verbrannt. Wir hatten Angst vor den SS-Führern Jeckeln und Krause, die uns auf der Straße abknallten, wenn ihnen danach zu Mute war. Wir hatten Angst vor der Bunker-Haft. 90 Prozent von denen, die hineingeschickt wurden, kamen tot heraus. So lebten wir im Ghetto. 1942 und 1943, anderthalb Jahre." Sein Leidensweg danach dauert noch einmal solang. Abram Kit wird das KZ Kaiserwald und Strassenhof überleben. Er wird ins KZ Stutthof geschafft und im letzten Kriegswinter auf den Todesmarsch getrieben. Er sieht, wie viele Häftlinge nicht mehr gehen können und am Straßenrand erschossen werden. "Zehn Tage liefen wir so."

Rückkehr nach Riga

Irgendwann setzt sich auch Abram Kit hin. Er ist noch zu stark, um einfach so zu sterben, aber schon zu schwach, um noch ausreichend davor Angst zu haben. Doch sein Cousin, der neben ihm marschiert, läßt ihn nicht sitzen. So überleben beide den Todesmarsch. Der Cousin geht nach dem Krieg in die USA. Er bekommt eine Rente aus Deutschland. Abram Kit geht zurück nach Riga. Er wird es später bedauern. "Aber ich dachte, vielleicht finde ich noch jemanden aus meiner Familie." Doch da ist niemand. Er kann nicht mehr Vater und Mutter sagen und auch nicht Schwester und Bruder. Er hat kein einziges Foto von Familienangehörigen. Ungefähr zehn Jahre lang kann er sich noch erinnern, wie sie aussahen. Dann nicht mehr.

Seit zehn Jahren ist Abram Kit Rentner. Heute, mit 74, bekommt er 50 Lat Pension, seine Frau 40. Das sind zusammen etwa 270 Mark. Im Winter zahlen sie monatlich 40 Lat für die Miete. 15 Lat brauchen sie im Monat für Medikamente. Es bleiben 35 Lat. 105 Mark. Die Preise in Riga haben westeuropäisches Niveau. Theoretisch könnte Kit seine Heimat verlassen und irgendwo anders leben. Irgendwo anders wäre ein besserer Platz als Lettland. Er würde dort Geld aus Deutschland kriegen. Manchmal stellt er sich vor, in Israel zu sein, manchmal, seinen Cousin zu besuchen. Aber für eine Reise reicht das Geld nicht. Für eine Auswanderung könnte er seinen bescheidenen Besitz verkaufen. Aber für die Auswanderung reicht die Gesundheit nicht.

Abram Kit hatte zwei Herzinfarkte, die Nieren funktionieren schlecht und die Blutzirkulation auch. Er hört nicht gut seit den Schlägen im KZ und kann nicht mehr gut laufen. "Hier", sagt er und zieht den Ärmel seines Hemdes hoch, "sehen Sie, wie dünn meine Arme sind. Ich habe kein Fleisch auf den Knochen. Im Konzentrationslager war ich in einem Alter, in dem ich eigentlich wachsen sollte. Aber wir hungerten. Wir alle haben bis heute kein normales Leben, wir haben keine normale Psychologie und keine Familie. Wir konnten keine Geburtstage feiern, nur den eigenen. Wir haben keine Gräber, die wir besuchen könnten. Nur den Wald von Rumbula."

Die 82 Überlebenden von Riga stehen allein. Aber manchmal kommt Hilfe aus Deutschland. Nur nicht regierungsamtlich, sondern von einer Göttinger Bürgerinitiative. Dafür sind sie dankbar, aber Abram Kit meint, "daß es die Pflicht der deutschen Regierung ist, uns zu helfen. Und zwar bald, denn bei meiner Gesundheit kann ich nicht mehr lange warten. Wir waren damals Menschen zweiter Sorte und sind es heute immer noch." Vor einem Jahr hat er das in seiner eigenen Wohnung erfahren. Da kam eine lettische Frau zu ihm, aus dem Ort, in dem er geboren wurde. Sie wollte von ihm bezeugt haben, daß lettische SS-Leute, darunter ihr Vater, Juden erschossen haben und dabei verwundet wurden. Sie wollte das Zeugnis des Opfers für den Täter. Sie wußte, daß Bonn dann Geld zahlen würde.

Von Wolfgang Kohrt, Berliner Zeitung, 29. Oktober 1997


Andreas Jordan, März 2009

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