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Kriegskinder im Bombenkrieg

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"Das Inferno, das schweigen lässt"

Interview der Pforzheimer Zeitung vom 12. Januar 2008 mit Gertrud Ennulat, Autorin des Buches "Kriegskinder", über Verlust und Trauer sowie Strategien des Verarbeitens.

Die Autorin Gertrud Ennulat erlebte Tod und Vernichtung. Wie sie mussten viele Kriegskinder mit dem Erlebten fertig werden. In ihrem neuen Buch "Kriegskinder – Wie die Wunden der Vergangenheit heilen" beschreibt sie trotz der Trauer mögliche Wege zu einer Aussöhnung mit dem Erlebten. PZ-Redakteurin Martina Schaefer sprach mit der 66-Jährigen.

Pforzheimer Zeitung: Sie schlagen in Ihrem Buch einen versöhnlichen Weg ein. Können die Wunden der Vergangenheit, die der Krieg verursacht hat, überhaupt heilen?

Ennulat: In dem Moment, wo ich einen lebendigen Bezug zur Vergangenheit habe, bekommt das Geschehen eine andere Wertigkeit, als wenn es der Betroffene verdrängt. Häufig ist es so, dass Menschen meiner Generation etwa unter Beschwerden leiden wie Panikattacken oder Albträumen. Wenn ich diesen Bezug zum frühen Erleben im Krieg herstellen kann, dann bekommt das Ganze plötzlich einen sinnhaften Zusammenhang. Kinder erlebten schreckliche Dinge, die sie sich nicht erklären konnten.

Um weiterleben zu können, verdrängten sie das Erlebte. Es ist im Unbewussten gespeichert und kann sich als dunkler Schatten melden. Wenn das so ist, dann haben Geschehnisse aus dem Krieg noch nicht den richtigen Platz in der Erinnerung gefunden. Es ist wichtig, dass das Kind von damals endlich weinen kann. Im Luftschutzkeller ging das nicht. Das Inferno hat nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen zum Schweigen gebracht.

PZ: Wie haben Sie den Bombenangriff am 23. Februar 1945 auf Pforzheim erlebt?

Ennulat: Wir waren Kilometer weit weg von Pforzheim, mein Vater war dort als Feuerwehrmann im Einsatz. Ich und meine Mutter samt Geschwister waren in einem Bunker in einem stillgelegten Steinbruch. Dort war auch eine Rot-Kreuz-Schwester, die uns eingelegte Früchte zu essen gab. Eine alte Frau hatte Todesangst. Denn das, was in Pforzheim passierte, war zu spüren. Man sah es am roten Himmel. Die Angst, dass diese Bedrohung näher kommt, war riesig. Die Frau hat sich in dieser Situation dadurch Luft verschafft, indem sie zu uns Kindern sagte: Ihr seid schuld, weil ihr den Teller nicht leergegessen habt.

PZ: Wie hat Ihre Großmutter, die "Adler"-Wirtin, in Huchenfeld den Krieg wahrgenommen?

Ennulat: Sie hat den Krieg nicht als totale Konfrontation mit der Gefahr erlebt. Sie war oben auf dem Berg. Als die Alliierten kamen, trafen sich alle Bewohner des Dorfes in der Kirche. Meine Cousine, Tante und meine Großmutter gingen von der Gaststätte "Adler" Richtung Kirche, als sich meine Großmutter umdrehte und sagte: Ich gehe heim. Sie hat die Tür der Wirtschaft von innen abgeschlossen, ihre Bibel geholt und sich auf die Holzkiste in der Küche gesetzt. Und hat vertrauensvoll gewartet was kommt. Ihr ist nichts passiert.

PZ: Der Krieg hatte einen ganz elementaren Platz in Ihrer Mädchenwelt.

Ennulat: Der Krieg hatte viel stärkere Auswirkungen auf meine Eltern gehabt, als mir das damals bewusst war. Das Schweigen dieser Generation, das man ihr oft zum Vorwurf gemacht hat, kann ich heute gut verstehen. Es war das Inferno, das schweigen macht. Wie soll man darüber sprechen, dass jemand im Bunker verbrannt ist und ein Angehöriger die Asche zusammenkehrt.

PZ: Wann konnten Sie frei über die schrecklichen Erlebnisse reden?

Ennulat: Der 50. Jahrestag des Kriegsendes war für mich die Zeit, wo die Erinnerungen aufstiegen. Ich fing plötzlich an, Luftschutzkeller zu malen. Ich hatte auch plötzlich Kriegsträume. Und der andere Katalysator auch für viele meiner Freunde war der Golfkrieg. Ich habe meine ersten Gespräche geführt und gemerkt, wie gut das tut und wie viel doch an Erinnerungen hochkommt, mit denen man nicht gerechnet hat.

PZ: Sie sind früh mit dem Thema Trauer konfrontiert worden. All die Freundinnen ihrer Mutter etwa, die beim großen Angriff auf Pforzheim ihr Leben lassen mussten, haben den Verlust deutlich gemacht.

Ennulat: Wenn ich nach dem Angriff an der Hand meiner Mutter vom Wartberg runter in die Stadt gelaufen bin, um auf der anderen Seite am Kupferhammer nach Huchenfeld hochzugehen, spürte ich, dass meine Mutter jetzt eine andere ist. Die Atmosphäre der Stadt, in der der Tod noch gegenwärtig war und die Trauer um die Menschen legte sich wie ein dunkler Schleier um mich. Den Schmerz der Erwachsenen habe ich als Kind gespürt. Die toten Fassaden haben meine kindliche Fantasie unglaublich angeregt. Es war gespenstisch, durch eine Stadt zu gehen, wo kein Stein mehr auf dem anderen stand.

PZ: Erinnern Sie sich an einen besonders schmerzlichen Verlust?

Ennulat: Nach dem Krieg 1946 habe ich meinen kleinen Bruder verloren. Das hat die Familien noch mal an den Rand der Existenz gebracht: Der Krieg war vorbei, und es kamen diese schrecklichen Diphterie-Winter. Die Medizin war in Amerika und England zugänglich, in Deutschland noch nicht. Die Kinder starben wie die Fliegen. Durch diese Erfahrung bin ich zu meinem Schwerpunkt beim Schreiben meiner Bücher gekommen: Wie Kinder trauern. Denn ich habe nicht ausdrücken können, was ich fühlte. Die Erwachsenen waren mit dem Krieg und dem zusätzlichen Verlust beschäftigt. Vor 15 Jahren habe ich gemerkt: Ich habe ein trauerndes Kind in mir, das nicht trauern durfte.

PZ: Was war der konkrete Anlass für das neue Buch?

Ennulat: Die Kriegskinder sind in den vergangen Jahren vermehrt zum öffentlich diskutierten Thema geworden. Früher dachte man, dass ältere Menschen mit Beschwerden nicht therapierbar sind, das hat sich gewandelt. Es sind inzwischen auch einige gute Veröffentlichungen erschienen. Nach einer gelungenen Veranstaltung in Waldsrode kam ich nach Hause und wusste: Ich will thematisch einsteigen.

PZ: Wie sieht so eine konkrete Hilfestellung aus?

Ennulat: Inzwischen gibt es in vielen Städten Gesprächskreise, die sich mit dem Thema beschäftigen. Denn viele Menschen werden im Alter dazu getrieben, den Tisch ihres Lebens aufzuräumen auch in Hinblick auf Fragen der nächsten Generation. Es gehört auch zu einem wichtigen Kapitel des Älterwerdens, sich mit den Lebensanfängen auseinanderzusetzen.

Dazu gehört, den Fragen der Kinder auch in Bezug auf den Krieg standzuhalten. In dem Moment wo Enkel diese Fragen stellen, ist es einfacher, als wenn die eigenen Kinder fragen.

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"Kriegskinder – wie die Wunden der Vergangenheit heilen"

Interview mit der Autorin Gertrud Ennulat über ihr neues Buch

In den letzten Jahren sind einige Bücher zum Thema Kriegskindheit erschienen. Was veranlasst Sie dazu, ein weiteres Buch darüber zu schreiben?

Ennulat: Die Generation der ehemaligen Kriegskinder setzt sich intensiv mit ihrer Geschichte auseinander. Sie wissen, dass sie als Kinder und Jugendliche mehr vom Krieg mitbekommen haben als ihnen bisher bewusst war. Mein Buch hilft genau bei diesem Prozess, denn es gibt Anregungen, wie das Kriegskind gefunden werden kann. Es macht Mut, sich der Erinnerungen zu stellen und das Kind als authentischen Zeugen der Kriegsereignisse ernst zu nehmen.

Hat nicht die Zeit alle Wunden geheilt?

Ennulat: Nein, die Zeit allein konnte die Wunden nicht heilen. In meinem Buch schildere ich auch schmerzhafte Prozesse der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und gebe Anregungen, wie auch diese Erfahrungen einen Platz in der Biographie des einzelnen finden.

Wäre es da nicht besser, den Deckel drauf zu lassen?

Ennulat: Bei den meisten Betroffenen funktioniert genau dieser alte Mechanismus nicht mehr. Sie wollen endlich dem Schmerz des Kindes auf die Spur kommen, die Tränen weinen, die das Kind unterdrücken musste. Keiner muss sich dieser Tränen heute schämen.

Ist die Aufarbeitung der Verletzungen nicht mit erneutem Schmerz verbunden?

Ennulat: Ja, sicher. Aber die ehemaligen Kriegskinder wissen, dass es höchste Zeit ist. Viele sind Großeltern. Eine der wichtigen Aufgaben verantwortlicher Großelternschaft besteht darin, Brücke zur Vergangenheit für die Enkel zu sein. Mein Buch zeigt Möglichkeiten für einen gelingenden Dialog zwischen diesen beiden Generationen. In meinem Buch informiere ich auch über die Untersuchungen von Anna Freud, die bereits im Jahr 1940 Kinder therapierte, die mit den Folgen der Luftangriffe nicht fertig wurden. Eigentlich macht es ja keinen Unterschied, ob ein englisches Kind von London aufs Land in eine fremde Familie geschickt wurde oder ein deutsches Kind mit der Kinderlandverschickung nach Bayern oder in den Warthegau kam.

Wen wollen Sie mit Ihrem Buch ansprechen?

Ennulat: Die erste Zielgruppe sind die heute grau gewordenen Kriegskinder, die mehr über den Alltag von Kindern im Krieg wissen wollen. Mein Buch setzt an der Schnittstelle von vergangenem Erleben und heutiger Erinnerung an und gibt vielfältige Hilfen für das Auffinden und den Umgang mit dem ehemaligen Kriegskind.
Die zweite Zielgruppe sind die erwachsenen Kinder und Enkel der Kriegskinder, die unter der Mauer des Schweigens zwischen den Generationen leiden. Sie sind auf authentische Informationen über das Erleben ihrer Eltern angewiesen. In meinem Buch informiere ich deshalb auch über die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen im System der Familie und gebe konkrete Anregungen für einen lebendigen Austausch zwischen den Generationen.

Es gibt Menschen, die von sich sagen, der Krieg habe ihnen wenig geschadet. Gehen Sie in Ihrem Buch auch darauf ein?

Ennulat: Ja! Ich bin der Frage nachgegangen, ob es Faktoren gibt, die es Kindern leichter machten, den Krieg zu überstehen. Ein großer Teil der ehemaligen Kriegskinder war ja widerstandsfähig in der aktuellen Situation. Erkenntnisse aus der Resilienzforschung erklären, wie Kinder auch mit extremen Belastungen wie dem Krieg elastisch umgehen können. Aber auch bei diesen Menschen kann sich heute das Kriegskind melden.

War der Krieg für Kinder nicht auch ein großes Abenteuer?

Ennulat: Im entsprechenden Kapitel meines Buches gehe ich dieser Behauptung nach und zeige, dass das Bild des großen Abenteuers häufig eine Rationalisierung bzw. eine Deck-Erinnerung ist, die dem Überleben diente. Manches Kriegskind, das in der geschönten Erinnerung am Ausgang des Bunkers auf dem Bauch lag und fasziniert Bomber zählte, wurde irgendwann doch von bedrohlichen Bombenträumen heimgesucht. Ein weiteres Beispiel dafür, wie wichtig die Revision von Erinnerungen ist.

Welche Kinder hatten es leichter als andere?

Ennulat: Ein weiteres Kapitel meines Buches schildert die Bedeutung der Familie. Gut hatten es Kinder mit Großeltern, die ein schützendes Bollwerk waren. Gut hatten es auch die Kinder, die Geschwister neben sich hatten, denn diese verkörperten eine große Ressource im Kampf ums Überleben.

Was hatte es mit der eisernen Disziplin der Kriegsmütter auf sich?

Ennulat: Ihre Disziplin garantierte das Überleben der Kinder, denn sie wurden nicht vernachlässigt. Leider blieben viele Kriegsmütter und Väter im Schweigen stecken und fanden Zeit ihres Lebens keinen emotionalen Zugang zu ihren Erlebnissen.

Welches Ziel hat die Auseinandersetzung mit der Kriegskindheit?

Ennulat: In meinem Buches geht es um die Aussöhnung mit dem Lebensanfang im Krieg. Am Ende der Auseinandersetzung haben sich die Schatten gelichtet. Die Bruchstücke des Lebensanfangs im Krieg sind ins Ganze der eigenen Biografie eingefügt. Ein neuer Halt gebender Wurzelboden hat sich gebildet, und das Kind hat seinen Platz gefunden. Das bewirkt eine Vitalisierung des Lebens der älter werdenden Menschen.

Wie gelingt es, einen Schlussstrich zu ziehen?

Ennulat: Manche schreiben ihre Erfahrungen als Kind im Krieg auf. Das hat eine befreiende Wirkung. Oft werden alte Photos dazugeklebt, sodass eine Art Dokument entsteht, das auch den Jüngeren in der Familie zugänglich ist. Andere treibt es in die alte Heimat, aber nicht in nostalgischer Verklärung, sondern um endgültig Abschied nehmen zu können. Dann ist der Krieg im Inneren vorbei, es ist Friede.

Quelle: www.ennulat-gertrud.de


Horror einer Kriegsnacht

Viele Jahrzehnte hatte Helgard Werthwein den Horror einer Kriegsnacht verdrängt. Mit schlimmen Folgen. Auch Babys werden traumatisiert, erfuhr sie dann von einer Psychotherapeutin, die ihr Leben veränderte.

60 Jahre lang hat Helgard Werth wein nicht über ihren toten Vater gesprochen. Er ist gestorben am 12. September 1944, als halb Stuttgart bei einem Bombenangriff der Alliierten in Flammen aufging. Jene Nacht verfolgt das Kriegskind bis heute. Die Angst begleitet Helgard Werthwein wie ein schwerer Rucksack. Sie trägt die Last schweigend, vertraut sich niemandem an.

Es ist die Angst, verrückt zu sein. Die 63-jährige Bibliothekarin fürchtet sich vor den unerklärlichen Dingen in ihrem Leben. Sie spürt die unsichtbare Hand, die ihr die Kehle zudrückt, wenn sie sich zu Fuß einer Straßenunterführung nähert. Dann nimmt sie Umwege in Kauf, meidet die dunkle Röhre. Mit kaltem Schweiß reagiert sie auf Flugzeuggeräusche, offenes Feuer lässt sie erstarren.

Panik im Alltagsleben

"Ich hatte keine Ahnung, was mit mir los war", erzählt Helgard Werthwein. Regungslos sitzt sie auf dem Sofa in ihrer Ulmer Wohnung. Die Frau, die wegen ihres kranken Herzens erwerbsunfähig geschrieben ist, spricht mit leiser Stimme. So als müsse sie die verschütteten Worte zusammensuchen und sie vorsichtig aneinandersetzen. Zu lange wurde geschwiegen in der Familie Werthwein, reden ist Schwerstarbeit. "Da gibt es nichts zu sagen, vorbei ist vorbei", wiegelte ihre Mutter alle Fragen nach der Kindheit oder dem Vater ab.

Bei einem der schwersten Luftangriffe der Alliierten auf Stuttgart kam Hermann Werthwein ums Leben. Erstickt im Luftschutzkeller zusammen mit seinen Eltern und einem Dutzend anderer Hausbewohner. Viel mehr als die dürren Fakten hat Helgard Werthwein von ihrer Mutter nicht erfahren. Erst nach deren Tod im Jahr 2004 traute sie sich an die Vergangenheit heran und versuchte, die Geschehnisse der Nacht nachzuvollziehen. Damals lag Helgard Werthwein noch in den Windeln. Bilder vom Feuersturm hat sie nicht im Kopf. „Ich war doch erst sieben Monate alt, da konnte ich nichts mitbekommen haben", dachte sich die Überlebende - und irrte. Eine Vortragsankündigung in ihrer Kirchengemeinde hat Helgard Werthwein auf die Frau aufmerksam gemacht, die ihr Leben änderte: die Ulmer Psychotherapeutin Cordula Gestrich.

Mein schlimmstes Erlebnis

Von einem Erinnerungsvermögen des Körpers erzählte die Therapeutin und davon, dass bereits Babys traumatisiert werden können. "Der Organismus des Säuglings registriert, dass es um das nackte Überleben geht", kommentierte Cordula Gestrich die Bombennacht. Auch ein Baby spüre die Angst der anderen, könne sie aber nicht bewältigen. Die unerträglichen Gefühle würden im Hirn abgekapselt, unverarbeitet eingelagert. Für die Traumatheraupeutin Gestrich war klar: bei Helgard Werthwein kommen die Ängste der Kriegsnacht wieder an die Oberfläche, ausgelöst durch äußere Schlüsselreize.

Der Geruch von Feuer, das Gefühl der Enge, schrille oder dröhnende Töne führen zu Panikattacken. "Ich bin nicht verrückt, sondern kriegstraumatisiert", beginnt Helgard Werthwein in ihrem 60. Lebensjahr allmählich zu verstehen. In einer von Gestrich geleiteten Gruppe für Kriegskinder fängt sie an zu reden und zu zeichnen. "Mein schlimmstes Erlebnis", lautet der Arbeitsauftrag für das erste Bild, ein Aquarell. Es zeigt einen rotglühenden Flammenvorhang, aus dem schwarze Gestalten mit erhobenen Armen rennen, zwei Fliehende. Auf der Straße vor ihnen liegt ein Säugling, ein weißes Bündel, friedlich schlafend in einem Weidenkorb. "Das Kind bin ich", sagt Helgard Werthwein und erzählt, wie sie aus den bruchstückhaften Berichten ihres Onkels und aus Briefen die Ereignisse des 12. Septembers rekonstruiert hat.

Onkel rettete das Leben

Ihrem Onkel Willes verdankt Helgard Werthwein ihr Leben. Der verwundete Frontsoldat habe ein Gespür für Gefahren gehabt, sagt die 63-Jährige und fängt an zu keuchen. Sie muss eine kurze Pause machen, hält sich mit der Hand die Brust. Ein paar tiefe Atemzüge helfen. Bis heute quält es sie, nicht zu wissen, was sich genau in der Nacht des Feuersturms abgespielt hat. Da ist immer wieder dieselbe Frage: "Warum habe ich es geschafft, warum die anderen nicht?" Der Gang zurück in die Vergangenheit ist beschwerlich. Doch hat er Helgard Werthwein eine neue Perspektive ermöglicht. Zu lange hat sie nur für die Familie gelebt, nicht geheiratet. Sie pflegte erst den Onkel, ihren Retter, dann die Mutter bis zum Tod. Sie hat sich in eine dicke Schale gehüllt, einen Schutzpanzer. Kein Einzelfall in der "Generation Ärmel hoch", wie die Therapeutin Cordula Gestrich versichert. Ein Drittel der Jahrgänge 1935 bis 1946 sei stark traumatisiert, nur habe lange keiner über die Deutschen als Opfer des Zweiten Weltkriegs reden wollen.

Flucht aus dem Luftschutzkeller

Ein Regen von Spreng- und Brandbomben ging in dieser Kriegsnacht auf Stuttgart nieder. Mehr als 1000 Menschen starben bei dem Großangriff der Royal Airforce. Obwohl die Sirenen noch keine Entwarnung gegeben hatten, rannte Helgard Werthweins Onkel mit dem Säugling aus dem Luftschutzkeller, gefolgt von der Mutter, die um ihr Kind fürchtete. Die instinktive Entscheidung zu fliehen hat die drei gerettet. Keiner der im Keller Gebliebenen überlebte.

WAZ, 10. Juli 2008. Von Christine Keck

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Trauma-Studie: Der Krieg ist auch nach über 60 Jahren nicht vorbei

Der Krieg ist immer noch da. Auch wenn die letzten Bomben auf Deutschland vor über 63 Jahren fielen. Wenn eine Sirene heult, suchen Betroffene erschrocken nach dem nächsten Pfeil zum Luftschutzkeller, uralte Greise werden von ihren Träumen unter die Betten gejagt, Dinge werden hastig in den Keller in Sicherheit gebracht. Und das alles passiert heute. Wie oft es passiert, überrascht selbst Leipziger Forscher.

Sie hatten 2005 eigentlich nur eine deutschlandweite Befragung gestartet, um sich ein Bild machen zu können, wie oft die Bundesbürger ein Traumatisches Erlebnis haben im Leben und wieviele von ihnen danach an posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, kurz PTBS genannt. Meist als Depression erlebt, Schlaf- oder Angststörung. Der Schock wirkt nach. Der Schock, der auch im Leben der Bundesbürger zu finden ist: ein schwerer Unfall, eine lebensbedrohliche Krankheit, körperliche Gewalt oder eine Naturkatastrophe. Das alles wirkt nach.

24,2 Prozent, praktisch jeder vierte Deutsche, hat schon einmal ein solches Trauma erlebt. Das war nichts Überraschendes für die Forscher um Prof. Elmar Brähler (Leiter der Abteilung Medizinische Psychologie und Soziologie an der Uni Leipzig) und Prof. Andreas Maercker (Leiter der Abteilung Psychopathologie und Klinische Intervention an der Uni Zürich). Damit ist Deutschland sogar noch eines der friedlichsten Länder auf Erden. In den USA kommen vergleichbare Untersuchungen auf über 50 % Trauma-Erfahrungen.

Nicht jeder leidet später darunter. Aber wer darunter leidet, erlebt in der Regel das Schlimme immer wieder. Zahlen der Krankenkassen belegen, dass 2,31 Prozent der Deutschen unter akuten PTBS leiden. Das Überraschende an der Befragung von 2.426 Bundesbürgern 2005 aber war: Menschen über 60 leiden fast drei Mal so häufig wie jüngere Bundesbürger unter PTBS. Und das, obwohl doch der Mensch scheinbar ausgeglichener wird im Alter.

"Doch die Bilder kommen immer wieder", schildert Andreas Maercker, was da passiert. "Flashbacks" reißen den Betroffenen unverhofft zurück in die Momente des traumatischgen Erlebens - in die Bombennacht oder den Schützengraben. Es sind tatsächlich die Kriegserlebnisse, die nicht nur bei jenen nachwirken, die den Krieg als junge Erwachsene miterlebten, sondern auch bei jenen, die noch Kinder waren, als die Bomben fielen oder als die Kriegsmaschinerie die Flüchtlingstrecks vor sich hertrieb.

Die Bilder kommen immer wieder

24 Prozent der über 60jährigen haben seinerzeit Kriegshandlungen als Trauma erlebt, 21 Prozent erlebten mit, wie die Wohnung der Kindheit ausgebombt wurde, 18 Prozent erlebten die Vertreibung aus der Heimat als Trauma. Schon das eigentlich Zahlen, die aufhorchen lassen. Immerhin sind das jetzt jene Jahrgänge, die den Krieg nur als Kinder und junge Menschen erlebten. Wie muss das erst ausgesehen haben in den Alpträumen der älteren Jahrgänge, derer, die wissend und nur zu oft auch schuldig an diesem Krieg beteiligt waren?

Nicht ohne Grund war die historische Aufarbeitung des Nazi-Reiches bis in die 1980er Jahre blockiert, die juristische Aufarbeitung in weiten Teilen ebenfalls. An eine psychologische Aufarbeitung gar nicht zu denken. "Vielleicht ist es tatsächlich jetzt erst möglich, dass man nach über 60 Jahren danach fragt", sagt Elmar Brähler. Auch das zeigt die Auswertung: Je älter die Befragten, umso öfter wird der Krieg von ihnen auch als traumatisierendes Ereignis benannt. Bei dem 65- bis 69jährigen nennen ihn fast 40 Prozent als Trauma-Erlebnis, bei den über 75jährigen fast 60 Prozent. Und während ihn bei den 65- bis 69jährigen immerhin 26,9 Prozent als schlimmstes traumatisches Ereignis nennen, waren es bei den über 75jährigen 40,6 Prozent. Im Verhältnis dazu spielen "zivile traumatische Erlebnisse" nur eine marginale Rolle, unterscheiden sich in der Wertigkeit auch kaum von den Aussagen der unter 60jährigen.

Dass es tatsächlich der Krieg ist, der in den Köpfen der älteren Deutschen noch immer für Angst und Panikattacken sorgt, zeigt eine Vergleichstudie mit Schweizern. Hier gibt es die Häufung der Trauma-Erfahrungen und der damit zusammenhängenden PTBS im höheren Alter nicht. Für andere Nachbarländer fehlen leider die Studien. "Wobei ich mir sicher bin, dass wir für Großbritannien, Polen oder Russland ganz ähnliche Ergebnisse bekämen wie in Deutschland", sagt Maercker. "Es müsste in allen vom Krieg betroffenen Ländern ganz ähnlich sein." Wichtig sei die Studie jetzt besonders für die Pflege Älterer, auch die Demenzbehandlung und die Arbeit von Hausärzten, die mit älteren Menschen zu tun haben. Wichtig könnten die Ergebnisse auch sein für ein Arbeitsfeld, vor dem Staatsmänner und -frauen heute selbst noch eine panische Angst haben: dem State-Re-Building, dem Wiederaufbau kriegszerstörter Staaten.

Denn deutlich zeigt die Studie, in welcher Breite Krieg und Zerstörung auch in die Seele der Menschen eingreift. Mindestens 3,4 Prozent (das ist der Wert für die über 60jährigen in Deutschland) leiden bis an ihr Lebensende unter den posttraumatischen Auswirkungen. Und noch eine Zahl gibt zu denken: Fast 8 Prozent derjenigen, die einen Einsatz im Krieg als Trauma erlebten, litten auch in hohem Alter unter posttraumatischen Syndromen. Die alten Männer erleben Tod, Beschuss, Zerstörung und Angst immer wieder und brauchen dabei ärztliche Hilfe.

Das verbannte Wissen

Doch was ist in einer Gesellschaft passiert, die darüber mehr als 60 Jahre lang überhaupt nicht reden durfte? Die alles unter den Teppich kehrte und immer dann, wenn Erinnerungen scheinbar zu schrecklich wurden, die "Auschwitz-Keule" herausholte und sich ein Schweigen erbat. Das kein Gutes war. "Das verbannte Wissen" nannte Alice Miller eines ihre vielen Bücher, die nicht ohne Grund auch immer wieder das Schweigen der Väter-Generation ansprach. Jener Väter-Generation, die sich - ohne Innehalten - nach dem schlimmsten aller Kriege daran machte, das "Wirtschaftswunder" zu vollbringen. "Und der Osten hatte eh nichts mit dem Krieg zu tun", spottet Elmar Brähler.

Dabei erfasst seine Studie tatsächlich nur noch jene Überlebenden, die mit dem Krieg im Kopf sogar noch irgendwie zurande gekommen sind. Die Erfahrungen der US-Amerikaner im Irak-Krieg oder die der Russen im Afghanistan-Krieg zeigen, dass gerade die Soldaten nach ihrem Einsatz häufig unter posttraumatischen Syndromen leiden, höhere Suizidraten aufweisen, Amok laufen oder die Gewalt des Krieges in ihren Alltag tragen. Wer Kriege beginnt, setzt eine Zeitbombe in Gang, die auch dann noch tickt, wenn der Frieden geschlossen wurde und das mühselige Werk des Wiederaufbaus beginnt. Und die Zahlen, die jetzt für Deutschland vorliegen, lassen nur ahnen, wie tief das Kriegsgeschehen in die Psyche der Betroffenen eingegriffen hat.

Quelle: LIZzy-online.de; von Ralf Julke 20. Mai 2008.


Andreas Jordan, September 2009

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