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Drei Briefe - geschrieben von Deportierten

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Von Deutschland ins Ghetto von Riga und in die Vernichtungslager von Kaiserwal und Salaspils

Dies ist der vierte einer Serie von persönlichen Berichten, die dem Jewish Central Information Office von Augenzeugen der Verfolgung von Juden unter der Naziherrschaft zur Verfügung gestellt wurden. Hier wiedergegeben werden die Berichte von Johanna Rosenthal (früher Berlin), Hermann Voosen (früher Gelsenkirchen) und Heinz Samuel (früher Krefeld).

Johanna Rosenthal

Haessleholm, 26.06.1945

Haessleholm
Schweden

Sehr geehrter Herr Dr. S.,

ich bin so froh, dass mein Gesuch so schnell bewilligt wurde. Samstagmittag erhielt ich Ihr Telegramm, und bereits 4 Stunden später kam ein Telegramm von meinem Mann. Meine Freude war noch größer, als ich gleichzeitig auch die Adresse der Kinder bekam. G'ttseidank geht es allen gut. Ich hoffe, dass diese Zeilen Sie auch in guter Gesundheit antreffen. Es geht mir mit jedem Tag besser, G'tt sei es gedankt. Sie testen nun ein neues Medikament, das die Krankheitserreger bekämpfen soll, und man hofft, dass es schneller wirkt. Sowohl der Doktor als auch die Schwestern sowie die Menschen in Schweden sind wirk- lich wundervoll. Und nun, lieber Herr Dr. S., werde ich Ihnen eine kurze Schilderung der letzten Jahre geben.

ABSCHIED VON BERLIN

Als wir zwei Tage vor unserer Evakuierung von der Gestapo Potsdam aufgefordert wurden, eine Liste aller unserer Besitztümer anzulegen, sagte man uns ausdrücklich, daß es keinerlei Grund zur Beunruhigung gäbe. Donnerstag forderte man uns auf uns am nächsten Morgen um 8.00 h im Gestapo Hauptquartier einzufinden. Zwei Beamte begleiteten uns dann nach Hause und teilten uns dort mit, dass wir unsere Wohnungen auf der Stelle aufzugeben hätten, da wir in den Osten übersiedelt würden. Obwohl man uns gestattete, unsere Habseligkeiten unter Aufsicht einzupacken, sahen wir diese nie wieder.Um 11.00 h kamen wir dann wieder in dem Gestapo Hauptquartier an, wo man uns unser Geld und unsere Papiere abnahm. Dann steckte man uns für zwei Tage ins Gefängnis. Am 11. Januar, einem Sonntag, wurden wir in geschlossenen Fahrzeugen nach Berlin gebracht, wo wir mit auf einen Transport gehen sollten. Dort wurden wir erneut durchsucht, und sogar Lebensmittel wurden uns weggenommen. Wir trafen dort auf alle Insassen des Altersheims in der Grossen Hamburgerstrasse sowie Kran- kenhauspatienten, die die Gestapo aus ihren Betten gezerrt hatte. Am Dienstag, den 13. Januar wurden wir, insgesamt 1.200 Menschen, in einem überfüllten, unbeheizten Zug nach Riga verschickt. Das erste, das man uns mitteilte war, dass es weder Essen noch Trinken geben würde, uns so verbrachten wir drei Tage und drei Nächte ohne jeglichen Tropfen Flüssigkeit, weder warm noch kalt.

ANKUNFT IN RIGA

Am Freitagnachmittag, den 16. Januar erreichten wir Riga bei minus 40°C. Am Bahnhof empfing uns die Deutsche und Lettische SS mit Brüllen und Schlägen. Alles Gepäck, das man uns bis dahin gelassen hatte, wie Rucksäcke und Aktentaschen, mussten zurückgelassen werden. Diejenigen, die laufen konnten, gingen auf einen Fußtransport, um nach 4 Stunden endlich das neue „Zu Hause“ zu erreichen. Invaliden etc. wurden in Autos gepackt und kamen nie im Ghetto an. Wir trafen das Ghetto in einem unbe- schreiblichen Chaos an. Anfang Dezember hatten sie dort zwischen 35 und 40.000 Juden erschossen. Teller und Becher noch mit Essens- und Getränkeresten standen auf den Tischen und zeigten, wie unerwartet das Massaker stattgefunden hatte. 3.800 lettische Männer und 200 Frauen befanden sich noch dort; sie waren von unserem Lager durch einen Zaun aus Stacheldraht getrennt. In unserem Ghetto befanden sich ca. 10.000 Juden aus allen Teilen Deutschlands: aus Köln, Düsseldorf, Kassel, Hannover, Leipzig, Berlin, Wien, Prag.

VERNICHTUNG DURCH FORTLAUFENDE „SÄUBERUNGSAKTIONEN“

Unser Transport war der erste aus Berlin. Innerhalb der nächsten 2 Wochen folgten noch zwei weitere. Diese Transporte waren noch schlimmer, da sie fast nur aus alten Menschen bestanden, alle zusammengepfercht in Viehwaggons. Einige der alten Leute hatten auf dem Weg den Verstand verloren, einige waren gestorben. Und inmitten dieser schweren Not mussten wir uns nun in irgend einer Art und Weise einrichten. Auf dem Boden schlafend, mit nur 2 Scheiben Brot pro Tag – so mussten wir über Monate leben und überleben. Wir wurden in Arbeitsgruppen eingeteilt. Schnee schaufeln bei minus 40°C, Gemeinschaftsgräber ausheben im Wald, und dergleichen. Am 5. Februar um 9.00 h morgens erschien die S.S. in grosser Anzahl – Anwesenheitsappell auf der Strasse. Invaliden, Alte und sogar einige Menschen in ihren besten Jahren, wurden selektiert und in geschlossenen Lieferwagen abgeführt. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört. Nur 2.500 von 4.000 Menschen blieben zurück. Diese „Säuberungsaktion“ betraf nur die Gruppen aus Berlin und Wien. Ende März/Anfang April passierte etwas ähnliches im Ghetto. Und wieder waren wir einige Tausende weniger. Anwesenheitsappelle, die fünf oder sechs Stunden dauerten, grundlos, bei Temperaturen von minus 31 bis zu minus 36°C wiederholten sich immer wieder.

DEN TOD ALS DROHUNG STÄNDIG VOR AUGEN

Am 27. März erhielt ich eine feste Anstellung bei der Wehrmacht. Ich arbeitete bei dem „Armeebekleidungsamt 709“ ( Abk. A.B.A. 709). Trotz Hunger, Frost und harter Arbeit erfüllte ich die an mich gestellten Forderungen. Das rettete mein Leben. Nach nur 2 Wochen wurde ich zur Vorarbeiterin befördert. Diesen Posten behielt ich bis zur Auflösung des Lagers am 27. September 1944. Nach und nach gewöhnten wir uns an das Leben im Ghetto. Um zu überleben, tauschten wir alles, was wir in unseren Haushalten finden konnten und nicht zum Überleben notwendig war. Darauf stand die Todesstrafe, aber es war uns einerlei, wie wir sterben würden. Es wurden so viele erschossen oder erhängt. Zur Abschreckung ließ man uns abends nach der Arbeit an den Galgen vorbeigehen, wenn wir müde nach Hause gingen. Aber der Tauschhandel hielt an.

DAS KONZENTRATIONSLAGER „KAISERWALD“

Im Sommer 1943 kam die Order, dass das Ghetto aufgelöst werden sollte. Alle Juden sollten in einem Konzentrationslager untergebracht werden. Ein riesengroßes Konzentrationslager mit dem Namen „Kaiserwald“ wurde in Riga errichtet. Hier hatte nicht nur die SS das Kommande, sondern die größte Gefahr lauerte aus der Tatsache, dass Kriminelle über das Schicksal der Juden entschieden. Einige Juden waren jedoch noch in Barracken in der Stadt und in den Vororten untergebracht. Unser A.B.A. , obwohl eingebunden in das KZ Kaiserwald, brachte uns am 06. November 1943 in Baracken unter. Am 2. November fand eine weitere „Säuberungsaktion“ im Ghetto statt. 2.260 Männer, Frauen und Kinder wurden in Viehwaggons eingepfercht und an einen unbekannten Ort gebracht. Gerüchten zufolge: Auschwitz. An dem Tag wurde eine große Anzahl von Kindern ihren Eltern entrissen. Nach weiteren 4 Wochen fand eine weitere Aktion statt, und dann wurde das Ghetto endgültig aufgelöst.

DAS AUSEINANDER REISSEN VON FAMILIEN

Die wenigen Kinder, die während der Aktionen gerettet werden konnten, wurden am 22. April von der GESTAPO gefangengenommen und abgeholt. Bestimmungsort unbekannt. Am Abend des 28. Juni alle Insassen beordert zur Aufstellung, ohne Gepäck. Ein S.S. Arzt selektiert. Es machte keinen Unterschied, ob krank, oder nicht. Und wieder: Bestimmung unbekannt. Am 17. Juli wurden allen die Haare geschoren. Nach ca. 3 bis 4 Wochen um 6.00 h morgens, der nächste Anwesenheitsappell. 500 Menschen wurden selektiert und auf den Transport nach Stuthof bei Danzig geschickt. Es war egal, ob sie nur mit einem Nachthemd bekleidet waren oder keine Schuhe trugen. Am 25. September dann ein plötzlicher Appell nach der Arbeit. Sechzig Personen (50 Männer und 10 junge Mädchen) blieben zurück; alle anderen wurden nach Stuthof gebracht. Erst in allerletzter Minute kam die Genehmigung für 200 Juden, bei der A.B.A. zu bleiben. Ich stand bereits am LKW, als der Lagerkommandant zu mir sagte „Frau Rosenthal, gehen Sie nach rechts.“ Das war meine Rettung. An dem Abend wurden wie bei allen anderen Aktionen Familien auseinander gerissen. Es ist wirklich ausserordentlich, wie gut die Nazis es schafften, die Familienmitglieder voneinander zu trennen.

ZURÜCK IN DEUTSCHE GEFÄNGNISSE

Zwei Tage später, genau an Yom Kippur, wurde unsere Abteilung A.B.A. nach Libau verlegt. Die Reise ging per Schiff. Die ersten paar Tage mussten wir Tag und Nacht arbeiten, aber dann wurde es sogar hier sehr unangenehm. Die Russen rückten immer näher. Es gab mehrmals täglich Bombenalarm. Zweimal hätte es mich haarscharf erwischt. Ich stand nur einen Yard von der Stelle entfernt, wo die Bombe einschlug. Beim ersten Angriff am 22. Oktober starb eine Frau. Bei der Explosion verlor ich mein Gehör für gute 2 Wochen. Es ist noch immer nicht ganz ok, aber leider können sie derzeit nichts daran machen, weil die Gefahr zu groß ist, dass die Krankheitserreger auch noch das Ohr angreifen. Genau 2 Monate später kam dann der zweite Angriff, bei dem 13 Menschen starben und 4 verschüttet wurden. Es war reines Glück, dass ich nicht neben meiner Freundin stand. Sie starb - ich überlebte. Von Libau aus sollten wir nun nach Stuthof verlegt werden. Ein Schiff stand nicht zur Verfügung, und ausserdem war unser Hauptscharführer während des Angriffs am 22.12. tödlich verletzt worden. Also wurde am 19. Februar entschieden, dass wir nach Lübeck verbracht werden sollten. Auf dem Weg dorthin erhielt der diensthabende Offizier jedoch per Radio die Nachricht, uns in Hamburg abzuliefern. Hier wurden wir von der GESTAPO in Empfang genommen, die uns ins Gefängnis Fuhlsbüttel steckte.

SKLAVENARBEIT IM LAGER BEI KIEL

Am 11. April kamen Instruktionen, dass wir in das Arbeitslager in der Nähe von Kiel zu überstellen seien. Nach einem Fußmarsch von 90 km erreichten wir diese Hölle mehr tot als lebendig am 15. April. 56 Männer waren in der Zwischenzeit in das Konzentrationslager Bergen-Belsen in der Nähe von Hannover deportiert worden. Ohne jegliche Möglichkeit, wieder zu Kräften zu kommen, mußten wir nun jeden Tag zu Fuss zur Arbeit laufen. Zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück, extrem harte Arbeit im Steinbruch. Wir mussten um 4.00 Uhr morgens aufstehen, dann stundenlanger Appell im Stehen, bevor wir um 7.00 h zur Arbeit aufbrachen. Ob es regnete oder nicht, der Appell wurde abgehalten Um 18.00 h marschierten wir zurück. Unser Abendbrot bestand aus Steckrüben oder roter Bete in Wasser gekocht. Morgens gab es 2 dünne Scheiben Brot. Die Zeit reichte gerade bis zum nächsten Appell. Da es kein Wasser gab, konnten wir uns nicht waschen. Jeder Versuch, an Wasser zu gelangen, wurde mit Schlägen geahndet. Da es keine Strohmatratzen gab, mussten wir auf den Bettgestellen schlafen. Da wir keine Nachtwäsche hatten, konnten wir die Wäsche zur Nacht nicht wechseln . Wir Frauen hatten ein Bettlaken, die Männer nicht. Jeden Tag wurden 40 Menschen in dieser Hölle erschossen, nachdem sie zuvor gequält und gefoltert worden waren.

DAS LAGER VON SALASPILS

Aber G'ttseidank mussten wir dort nicht lange bleiben, da wir am 1. Mai befreit wurden. Eine Frau von 69 Jahre die all die Torturen überstanden hatte, auch den langen Marsch von Hamburg nach Kiel, wurde 5 Tage vor der Befreiung erschossen. Ich habe anfangs vergessen zu erwähnen, daß 2.000 Männer in ein Vernichtungslager bei Riga deportiert wurden. Dieses Lager mit dem Namen Salaspils kostete 1.000 Menschen das Leben. Sie starben als Folge der Zwangsarbeit, Hunger und mangelhafter Hygiene. Erschiessungen und Erhängen waren an der Tagesordnung. Dieses Lager existierte 8 Monate. Die, die überhaupt jemals aus diesem Lager zurückkamen, waren halb tot.

Mit freundlichen Grüssen, Hanna Rosenthal

 

Hermann Voosen

30. Mai 1945

Rosoega
Harad
Schweden

Liebe(r) L., Familie G, und Freunde,

Es ist so wunderbar, nach 3 ½ Jahren des Gefangenseins und der kompletten Abschottung von der Welt wieder frei zu sein, sich an Freunde und Bekannte zu erinnern und ihnen schreiben zu können. Aber es sind nur wenige meiner Freunde von den barbarischen Hunnen verschont geblieben. All diejenigen, die nicht das Glück hatten, sich im Ausland in Sicherheit bringen zu können, wurden ermordet. Zusammen mit ihnen meine Herzallerliebsten, meine unvergessliche Mutter und mein geliebtes Kind. Die wunderbare Güte des Allmächtigen verschonte meine Frau, mit der ich die gesamte schreckliche Pein bis auf einige Monate der Trennung zusammen durchgestanden habe.

VON 1.400 KAMEN NUR 149 ZURÜCK

Zusammen mit einer Gruppe von 86 jüdischen Frauen und Mädchen sowie 63 jüdischen Männern – die einzigen Überlebenden einer Gruppe von 1.400 Menschen – interniert seit Novmber 1943 wurde ich vom Schwedischen Roten Kreuz am 1. Mai 1945 aus dem Arbeits- und Ausbildungslager in Kiel-Russee befreit. Am folgenden Tag standen wir auf schwedischem Territorium. Dies waren die glücklichsten Tage meines Lebens. Wir wurden willkommen geheißen, man behandelte uns wie zarte Kinder und erhielten liebevolle Zuwendung. Es fühlte sich so an, als wenn die Freundlichkeit und Güte der ganzen Welt während der gesamten Fahrt durch Dänemark nur auf uns konzentriert sei, und so war es auch in Malmö, als wir dann schwedischen Boden betraten.

ERSTER SELBSTMORD

Nun wird es Sie interessieren, mehr über die Tragödie derer zu erfahren, die aus Gelsenkirchen kamen. Anfang Januar 1942 eröffnete die Gestapo der Kongregation, daß 400 Juden aus Gelsenkirchen zu Arbeitseinsätzen in den Osten umgesiedelt werden sollten. Man erlaubte uns, ca. 50 kg Gepäck mitzunehmen. Es machte das Gerücht die Runde, dass es zu dem Zweck tauglichen Juden erlaubt sein würde, sich dort niederzulassen. Also war mehr Gepäck notwendig, sowie Haushaltsutensilien und Werkzeug. Die Reichsbahn musste also noch zwei weitere Güterwaggons zur Verfügung stellen – auf Kosten von zwei Passagierwaggons. Die Gestapo half dabei und stimmte allem zu. In der Kongregation begann ein totaler Räumungsverkauf und Umzug von Möbeln. Ein spezieller Transportdienst wurde organisiert, um beim Packen und Verstauen zu helfen. Gepäck und Möbelstücke wurden in die Ausstellungshalle gebracht. Große Mengen an Lebensmitteln, Seife und andere streng rationierte Waren wurden mit Genehmigung der Gestapo aufgetrieben und zur Verfügung gestellt. Wir hatten alles. Wir erfuhren Wohlwollen und Mitgefühl von der Bevölkerung.In Abstimmung mit der Gestapo packten wir auch die Thorarollen und Devotionalien ein. Am 22. Januar wurden dann die Betroffenen von zu Hause mit Bussen abgeholt und zur Ausstellungshalle gebracht. Die Juden aus Recklinghausen und Dorsten, angeführt von Dr. Stern, kamen auch dazu. Mir wurde die Verantwortung für den Transport übertragen. Dieser Job war nicht sehr angenehm. Wir verbrachten die Tage bis zum 27. Januar 1942 auf Stroh in den Ausstellungsgebäuden. Wir wurden von der Wohlfahrtseinrichtung der Nazis mit Essen versorgt. Zuerst ging also alles gut. Ein Vorkommnis muss jedoch erwähnt werden. Eine alte Frau, leicht verrückt, (ich habe den Namen vergessen, aber sie lebte bei den Schettmars am Moltkeplatz) schnitt sich ihre Pulsadern auf [Anm. d. Verf.: Es handelt sich um Helene Lewek]. Sie war unser erstes Todesopfer. Morgens um 4.00 h wurden wir aufgefordert, uns fertigzumachen. Durch den für Gelsenkirchen ungewöhnlichen 25 inch hohen Schnee marschierten wir mit unserem schweren Gepäck zum Güterbahnhof.

ÜBERFÜLLTER DEPORTATIONSZUG

Die alten Passagierwaggons, die für diesen Zweck von der Reichsbahn zur Verfügung gestellt worden waren, teilweise mit zerbrochenen Fenstern, waren keinesfalls dazu ausgerichtet, 500 Menschen unterzubringen, geschweige denn das Gepäck. Wir wurden einfach hineingestoßen. Die Menschen standen in den Gängen. Für die Dauer der gesamten Reise mußten die Leute noch eine Person auf den Schoß nehmen. In Dortmund wurde der zweite Teil des Zugs angehängt, mit noch mehr Juden aus Dortmund und Umland, aus Witten, Bochum. Herne und eine kleine Gruppe aus Münster. Nun waren 1.000 Juden im Zug. Die Dortmunder wurden von Herrn Elsbach geführt.

Wir litten während der Fahrt unter der Kälte und dem Mangel an Trinkwasser; die Toiletten froren zu. Dies war jedoch nur der Anfang. In Lehrte wurde der Waggon mit unseren Lebensmitteln abgehängt, mit der Entschuldigung, dass eine Achse heißgelaufen war. Der unseren Transport begleitende Polizeibeamte erlaubte mir, einen Anruf nach Tilsit zu machen, um zu versuchen, dort Hilfe in unserer Notlage zu bekommen. Und tatsächlich, die lieben Juden aus Tilsit, angeführt von Herrn Altertum, brachten mit dem Schlitten heiße Getränke und Lebensmittel zum Rangierbahnhof, der Meilen von Tilsit entfernt war. Es wurde uns erlaubt, ihnen letzte Nachrichten für unsere Liebsten mitzugeben, die daheim geblieben waren, damit sie wenigstens wussten, wohin wir gefahren waren.

Unterwegs starb dann Frau Meier aus Witten am 28. Februar 1942; sie war bereits krank, als sie in den Zug geschoben wurde. Zwei Doktoren aus Dortmund waren bei uns im Zug: Dr. Cohn, der selbst Diabetiker war, und Dr. Grünewald, der sich als Doktor bis dahin darauf beschränkt hatte, über medizinische Themen zu schreiben. Eine Krankenschwester aus Gelsenkirchen, deren Name mir leider entfallen ist, half allen großartig. Sie war eine approbierte Schwester und wohnte in der Schalkerstrasse.

Dann musste ein Waggon geräumt werden, da er keine Fenster hatte. Das führte dazu, daß alle anderen Waggons noch voller wurden. Ein Fröhling aus Buer, der seinen Verstand verloren hatte, weigerte sich, den Waggon zu verlassen. Am nächsten Morgen entdeckten wir, daß er vom fahrenden Zug gesprungen war.

Am 1. Februar 1942 erreichte der Zug den Skirotava Bahnhof in Riga. Die S.S. erwartete uns bereits. Ohne jeglichen Grund prasselten Schläge auf uns nieder, trotzdem waren wir froh, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben. Außer einigen erfrorenen Zehen und Füßen hatten wir alles überstanden, im Gegensatz zu Transporten aus Berlin und Wien, die vor uns eingetroffen waren, und auf denen es viele Todesopfer zu beklagen gab. Unser Gepäck mussten wir auf einen Haufen werfen – wir haben es nie wiedergesehen, noch nicht einmal die Haushaltsgeräte, Werkzeug und devotionale Gegenstände, die wir mit uns trugen.

ENTSORGUNG DER SCHWACHEN

Herr Wolff aus Dortmund wurde von der SS herausgerufen. Vor unserer Abfahrt aus Dortmund hatte er eine Auseinandersetzung mit einem Offizier der Gestapo. Er, Frl. Goldbaum aus Gelsenkirchen, die an einer Herzschwäche litt, Herr Goldschmidt aus Bochum, dessen Füße erfroren waren, und ein 12 Jahre alter Junge, Rosenberg aus Bochum, der auch an erfrorenen Füßen litt, wurden auf einem kleinen Schlitten davongebracht und wahrscheinlich erschossen.

Wir, die wir übrig geblieben waren, mußten zu Fuss die 10 km ins Ghetto nach Riga zurücklegen. Der Transport aus Gelsenkirchen/Dortmund war der letzte, der in Riga ankam, und mit ihm war das Ghetto praktisch voll. Es lebten dort 12.000 Menschen. Nun begann die Zeit der Sklavenarbeit, das Leid und der Schmerz. Appelle, Erschiessungen und das Hängen von Insassen waren an der Tagesordnung. Wir nahmen nur wenig Kenntnis. Der Tod war kein Unbekannter mehr, und wir fürchteten ihn auch nicht länger. Ich organisierte unsere Gruppe zusammen mit Dr. Stern.

SALASPILS

Am 4. Mai wurde ich von Weib und Kind getrennt und in das Arbeits- oder eher Hunger- und Vernichtungslager Salaspils bei Riga geschickt. In Salaspils starben 897 von 2.000 Männern an Hunger, oder wurden entweder erschossen oder erhängt – und das innerhalb von 6 Monaten. Da eine immer größer werdende Anzahl von lettischen politischen Gefangenen untergebracht werden mussten, wurde das Lager geräumt.

Am 4. Juli 1942 hielt ich unerwarteterweise meine Frau und mein Kind wieder in meinen Armen. Ich ging dann jeden Tag, auch Sonntags, zur Arbeit.

DEPORTATION MEINES KINDES

Inzwischen war es Mitte 1943. Die Frontlinie wurde durchbrochen, Gerüchte begannen zu zirkulieren, dass das Ghetto aufgelöst werden sollte; das neue Konzentrationslager Kaiserwald wurde errichtet. Es wurde gefüllt mit Leuten aus dem Ghetto. Kleinere Transporte gingen auch nach Estland. Am 2. November 1943 wurde das Ghetto endgültig geschlossen. Alle Patienten aus den Krankenhäusern, einige waren erst den Tag zuvor operiert worden, Menschen, die arbeitsuntauglich waren, Menschen, die nur eingeschränkt Tätigkeiten verrichten konnten, Kinder, Frauen, zusammen 2.286 Menschen ohne Decken oder Stroh wurden auf Viehwagen verladen und man sagte uns – und so wird es höchstwahrscheinlich auch gewesen sein – daß sie nach Auschwitz gebracht würden. Unter ihnen war mein Kind.

Die, die sich noch im Ghetto befanden, wurden durch militärische Einheiten in Baracken in Riga gebracht. Meine Frau und ich kamen auf das Arbeitsbekleidungsamt 701. Dort wurden wir relativ gut behandelt. Zumindest waren wir zusammen. Die Front kam immer näher. Der A.B.A. 701 packte am 27. September zusammen und zog nach Libau. Bevor es soweit war, hatte es eine Anzahl von Säuberungsaktionen gegeben, besonders betroffen waren Alte und Kranke (solche mit Knochenbrüchen, Krampfadern, etc.), und es gab Transporte ins Konzentrationslager Stutthof bei Danzig. Ich rettete meine Frau vor diesem Schicksal, indem ich sie stundenlang auf einem Fensterbrett hinter dem Verdunklungsvorhang versteckte, bis der Transport abgegangen war. Ich weiss bis heute nicht, woher ich meine Energie nahm. Alles, was ich tat, war gefährlich. Alles ging jedoch gut, auch dank meiner Tüchtigkeit bei der Arbeit, die die Nazis wertschätzten.

17 TOTE IN LIBAU

Die „Sanga“, ein neues deutsches Frachtschiff, brachte uns nach einer sehr stürmischen Passage in Libau am 1. Oktober 1944 an Land. Während der gesamten Überfahrt mussten wir uns vorne an der Einstiegsluke aufhalten. Wir blieben in Libau bis zum 19. Februar 1945. Das waren schlimme Monate. Wir mussten Tag und Nacht arbeiten, ohne Schutz vor Bombenangriffen, nur unzureichend ernährt. Als wir Libau verliessen, trauerten wir um 17 Kameraden, Männer und Frauen. Ein Kamerad starb durch Fieber, zwei wurden von der SS erschossen, weil sie getrieben durch Hunger und Verzweiflung Lebensmittel von der Wehrmacht gestolen hatten, 14 wurden bei Bombenangriffen der Russen getötet. Ich und viele meine Kameraden sind nur deshalb heute noch am Leben, weil die Russen kleinkalibrige Bomben einsetzte.

ZURÜCK NACH DEUTSCHLAND

Wir wurden dann auf einem kleinen Kohlenschlepper zurück nach Deutschland gebracht. Welches Schicksal würde uns nun erwarten? Alle waren deprimiert. Das Armeebekleidungsamt suchte uns zu be- ruhigen und machte viele Versprechungen. Aber wir kannten die Nazis und misstrauten ihnen. Und wir hatten sie richtig eingeschätzt. Am 24. Februar 1945 brachten sie uns nach Hamburg und wurden dort so- fort der GESTAPO übergeben, die uns ins Gefängnis von Fuhlsbüttel warf. Wir verbrachten unsere Zeit mit extrem harter Arbeit, hungrig, und dem Terror von den unaufhörlichen Bombenangriffen von flie- genden Festungen, denen wir ohne jeglichen Schutz ausgesetzt waren. Wir wurden von den Frauen getrennt. Am 11. April wurde das Gefängnis geräumt.

Wir alle, einschließlich der Frauen, mußten ungefähr 60 Meilen nach Kiel marschieren. Am 14. April erreichten wir das Arbeits- und Ausbildungslager von Kiel-Russee. Es war ein Vernichtungslager. Täglich verhungerten Menschen, wurden erschossen oder durch Spritzen getötet, und täglich kamen die Bombenangriffe dazu, denen wir auch dort schutzlos ausgeliefert waren. Unzureichende Zuteilung von Lebensmitteln, Ungeziefer überall, Holzbetten ohne Auflagen, keine Decken oder Laken. Gleich in den ersten Tagen verhungerten die ersten unserer Gruppe. Wir wären alle in den nächsten Wochen gestorben, aber ein Wunder passierte: das Schwedische Rote Kreuz kam und rettete uns aus der Hölle.

Nun sind wir wieder frei. Während der letzten vier Wochen wurden wir sehr gut behandelt. Wir haben sogar angefangen, uns auch körperlich wieder zu erholen. Aber wie sieht unsere Zukunft aus? Wir sind Deutsche und staatenlos. Für uns ältere Leute sehe ich keine Zukunft.

Mit freundlichen Grüssen, Hermann Voosen

 

Heinz Samuel

Juni 1945

Flykting Slaegret
Holsby Brunn
Schweden

KURZER BERICHT UNSERER LEIDENSGESCHICHTE


HUNGERGHETTO

Am 11. Dezember 1941 wurden wir von Krefeld nach Riga deportiert. Am 15. Dezember kamen wir dort an, und wir wurden sofort ins Ghetto gebracht. Unsere mitgebrachten Koffer wurden konfisziert. 2 Tage vor unserer Ankunft hatte sich etwas Schreckliches im Ghetto ereignet. Von 40.000 lettischen Juden waren nur 5.000 noch dort. All der anderen hatte sich die diensthabende SS mit Hilfe der lettischen SS „entledigt“. Wir fanden die Unterkünfte in einem verwüsteten Zustand vor und mußten durch das Blut der Ermordeten waten. Es ist einfach unmöglich, all das wiederzugeben, was sich dort zugetragen hatte. Bevor wir uns an das Ghetto gewöhnt hatten, gab es noch viele weitere Opfer. Anfangs wurden wir mit 17 weiteren Personen in einem Raum untergebracht. Die Ernährungslage machte uns zu schaffen. Die Ration für 14 Tage reichte gerade mal für 2 Tage. Die Menschen versuchten durch Tauschhandel an mehr Lebensmittel zu kommen. Darauf stand die Todesstrafe, und viele wurden für dieses Vergehen erhängt oder erschossen. Wir Männer mussten jeden Tag einen 7-stündigen Marsch durch Schnee und Eis zum Hafen antreten und dort Schwerstarbeit verrichten. Unsere Verpflegung bestand aus gefrorenen Steck- rüben, die wir unterwegs fanden. Wenn wir zurückkamen, standen hungrige Kinder am Zaun und bettelten um ein Stück Brot oder eine Rübe, die wir manchmal unter Todesgefahr ins Ghetto schmug- gelten. Unser geliebter Vater, der ein sehr schwaches Herz hatte, musste nicht mit uns zur Arbeit gehen.

Am 22. Dezember 1941 waren Werner und ich mit auf einem großen Transport ins berüchtigte Vernichtungslager Salaspils, 10 km von Riga entfernt. Wir verliessen unsere Eltern traurig und widerwillig. Die meisten von uns fuhren ohne es zu wissen in den Tod. Von 2.000 Menschen fanden 1.200 Menschen ihren Tod in einem Massengrab. Ungeziefer, Mangel an Waschvorrichtungen und insbesondere der Hunger waren der Grund für viele, Selbstmord zu begehen. Unser Werner wurde zum Tod durch Erhängen verurteilt, weil man Geld bei ihm bei einer Durchsuchung gefunden hatte, aber Gottseidank wurde er im letzten Moment gerettet, da diejenigen, die dieses Lager leiteten, uns Brüder wohl mochten. Unsere Boxhandschuhe, die wir immer bei uns trugen, mochten uns da einen großen Dienst erwiesen zu haben.

Diese Hölle dauerte 8 Monate, ohne dass wir auch nur ein Wort von unseren Liebsten erhalten hätten. Dann kehrten diejenigen, die überlebt hatten, ins Ghetto zurück – halb tot. Unser geliebter Vater war in der Zwischenzeit an Hunger gestorben. Mutter und unsere liebe Schwester waren sehr dünn geworden. Viele Freunde fanden ihre Verwandten nicht mehr, weil die SS sie „entfernt“ hatte. Auch unsere Mutter war für eine solche Aktion vorgesehen, entging aber diesem Schicksal. Viele Transporte, die nach uns eintrafen, wurden direkt in den Wald geführt. Die Menschen endeten in einem Massengrab unter dem Feuer von Maschinengewehren und Handgranaten. Dieses Massen- grab musste am Vortag von unseren Freunden unter strenger Aufsicht ausgehoben werden.

HILFE VON LETTISCHEN ARBEITERN

Im Lager befanden sich 15.000 Menschen aus Köln, Düsseldorf, Prag, Wien, Berlin etc. 13.000 Männer und Frauen gingen den diversen SS und Wehrmachtsgruppen zugeteilt in Kolonnen zur Schwerstarbeit. Täglich gab es Erschiessungen und Erhängungen. Mutter blieb innerhalb des Ghettos und erledigte die Hausarbeit für 8 Personen. Ruth arbeitete in einem Altmetall Lager und musste schwere Eisenteile verladen .Es gelang ihr, mich auch dort unterzubringen, und ich erledigte Schweissarbeiten. Dort hatte man zumindest die Chance, ein Stück Brot oder etwas anderes essbares mit nach Hause zu bringen, das man von lettischen Arbeitern als Anerkennung für die geleistete Arbeit zugesteckt bekam. Meine Freude darüber war sehr groß, aber noch größer war das Risiko, beim Schmuggeln ins Ghetto erwischt zu werden. Obersturmführer Krause pflegte unschuldige Menschen, zumeist Mütter, die ihre Kinder versorgen mussten, zum Friedhof zu führen und sie dann dort zu erschiessen, weil sie versucht hatten, Lebensmittel ins Ghetto zu schmuggeln.

Anfang Juni 1943 wurden viele Juden dazu bestimmt, Torf zu stechen, und sogar Ruth wurde eingeteilt. Mir wurde befohlen, zu bleiben, da ich ein ausgebildeter Arbeiter war. So blieb ich bei Mutter und Schwester. Dann errichteten sie ein neues Konzentrationslager in Kaiserwald nahe Riga. Das Ghetto wurde langsam geleert. Auch unser Werner musste gehen. Es war das erste Mal, dass wir Jungs getrennt waren. Ich wäre gerne mit ihm gegangen, aber andererseits wollte ich meine Mutter und meine Schwester nicht alleine lassen. Als wir Abschied voneinander nahmen, haben wir wie kleine Kinder geweint. Erneut hatte Werner Glück und wurde Gefangenensprecher im Konzentrationslager Dondangen.

Als meine Gruppe aufgelöst wurde, hatte auch ich Glück und wurde als Mechaniker im Armeebekleidungsamt (ABA) eingesetzt. Diese Gruppe blieb bis zum Ende im Ghetto. So konnte ich mit meinen Lieben zusammenbleiben. Nur durch meinen Job konnte ich meine Mutter und meine Schwester vor dem Abtransport in das furchtbare Konzentrationlager Kaiserwald bewahren. Oft mussten wir Krankentransportzüge Tag und Nacht entladen. Zu Essen gab es nichts als trockenes Brot. Am 24. Oktober 1943 kam Ruth mit infizierten Beinen vom Torfstechen zurück. Ihre Eltern waren auch schon nicht mehr da. Sie brachte etwas Essen mit, das sie mit Näharbeiten für den Direktor des Torfwerks in ihren freien Stunden verdient hatte. Unsere kleine Schwester mußte auch im Krankenhaus arbeiten. Sie mußte 4 Stunden lang morgens zur Arbeit laufen, aber wenn sie abends zurückkam, war sie stolz, ihren Rucksack voll mit Brot und Kartoffeln zu öffnen, die man ihr dort geschenkt hatte. Sie fühlte sich als Brotverdienerin der Familie. Es ist furchtbar, wenn man bedenkt, welche schrecklichen Jahre sie mit uns teilen musste.

SELECTION FOR MURDER – SELEKTION ZUR ERMORDUNG

[Anm. d. Verf.: Im Orginal fehlt hier eine Seite des Briefes]....um ihre Eltern und Brüder und Schwestern zu empfangen als sie von der Arbeit kamen. Hier und da sah man ein Licht und es waren furchtbare Schreie und Weinen zu hören. Als ich unsere Wohnung betrat, fand ich diese in demselben Zustand vor, wie seinerzeit im Dezember 1941. Aber meine Mutter und meine Schwester waren nicht mehr da. Ich rannte rund um das Haus – aber nichts. Nach einer langen Suche fand ich Ruth, die bei den Mendels aus Kempen Unterschlupf suchte, die alles gesehen hatten, was an dem Tag passiert war. Um 8 Uhr morgens war die Order ergangen, dass Kinder und Alte sich in einer Reihe aufzustellen hatten. Danach musste sich das gesamte Ghetto versammeln. Die Leute wurden von der SS mit Revolvern aus den Häusern getrieben. Sie mussten sich auf dem Sammelplatz in Reihen aufstellen. Dort traf der Mörder Krause dann seine Auswahl. Ein einfaches Nicken dieses Verbrechers reichte, um über das Schicksal der armen Juden zu entscheiden, die einst auf Lastwagen klettern mussten, und dann in Eisenbahnwaggons gepackt wurden. Von diesem Zeitpunkt an verwanden sie spurlos. Viele junge Mütter versteckten ihre Kinder und gaben ihnen Schlafmittel, um sie ruhig zu halten. Die meisten von ihnen wurden jedoch von den Verbrechern aufgespürt.

Eine fürchterliche Gedrücktheit machte sich jetzt in dem Ghetto breit. Die wenigen Menschen, die jetzt noch dort lebte, hatten fast alle ihre Verwandten verloren. Wir blieben noch bis zum 6. November 1943 im Ghetto, dann wurden wir von der ABA in Baracken gesteckt. Menschen mit Kindern unter 6 Jahren blieben im Ghetto. Bei der nächsten Säuberungsaktion gingen sie denselben Weg wie ihre Liebsten.

Wir, die wir für den ABA arbeiteten, mußten uns im Lager Kaiserwald registrieren lassen. Wir kamen dann in ein spezielles Konzentrationslager des ABA. Die Arbeit war sehr hart, die Lebensmittelsituation sehr schlecht. Wir verhökerten unsere Kleidung, damit wir nicht verhungerten. Wir mussten sehr dünne Sträflingsanzüge tragen, und sowohl Männer als auch Frauen hatten die Köpfe rasiert. Ruth kam zweimal mit hohem Fieber aus dem Krankenhaus zurück.Ich stahl mich zweimal heimlich aus dem Lager, um in einem benachbarten Haus um Medizin und etwas zu essen zu betteln. Ich wollte der guten Frau dafür das Hemd, das ich trug, geben, aber sie lehnte mit den Worten ab, dass Gott es ihr schon vergelten würde.

DIE LETZTEN DER KINDER ERMORDET

Ich wurde zweimal im Krankenhaus operiert. Dann kam ein weiterer schlimmer Tag. Die restlichen Kinder wurden von der SS geholt. Es spielten sich entsetzliche Szenen ab. Die Eltern mussten ihre Kinder eigenhändig ihren Mördern übergeben. Die Kleinkinder, die unter großer Gefahr aus dem Ghetto in unser Lager geschmuggelt worden waren, endeten nun im Wald auf dieselbe Weise, auf die so viele unserer jüdischen Mitbrüder und -schwestern umgebracht worden waren. Als die Russen immer näher kamen, gab es eine weitere Aktion, in der 176 Menschen aus unserem Lager ihr Leben verloren. Die Selektion wurde von dem SS Arzt Kräbsbach durchgeführt. Danach waren wir von den ehemals 1.500 Insassen unseres Lagers noch lediglich 200 – all die anderen wurden ins Vernichtungslager Stutthof abtransportiert. Und wieder verloren die meisten ihre Anverwandten. Jedenfalls schafften Ruth und ich es dadurch, daß wir zur Zufriedenheit der Verbrecher arbeiteten, zu den Letzten zu gehören.

Einige Zeit später, ging ein Schiffstransport von 1.400 Menschen nach Libau, und auch Ruth war dabei. Wir blieben als Gruppe von 50 Männern und 10 Frauen zurück. 14 Tage später wurden auch wir nach Libau gebracht, wo wir die anderen 1.400 wiedertrafen.

Unser Kommandant war jetzt der Hauptscharführer Brünner, verantwortlich für den Mord an einer großen Anzahl von Juden. Mittlerweile standen wir unter schwerem Beschuss der russischen Luftwaffe. Eine Brandbombe, die in den Luftschutzgraben fiel, verbrannte die Hälfte von Ruth's Gesicht. Nach einer Operation meiner Hand wurde ich als Heizer eingesetzt und musste oft nachts arbeiten. Wir blieben dort bis zum 19. Februar 1945.

Von Libau aus wurden wir per Schiff nach Hamburg gebracht. Dort warf man uns in das Gefängnis des Konzentrationslagers Fuhlsbüttel. Sieben Wochen blieben wir in dieser Hölle. Unsere Kraft nahm mit jedem Tag ab. 60 Kameraden wurden nach Bergen-Belsen deportiert. Am 14. April wurden wir zusammengerufen und erhielten 750 g Brot und 100 g Margarine. Das sollte für vier Tage reichen. Unverzüglich sandte man uns unter SS Bewachung auf den ca. 60 Meilen langen Weg nach Kiel. Am ersten Tag marschierten wir 20 Meilen und konnten uns nachher kaum noch bewegen, da unsere Körper ausgezehrt waren von den vorangegangenen Kraftanstrengungen und Entbehrungen. Wir ernährten uns lediglich von den unterwegs gefundenen Steckrüben, und sogar dann wurden wir geschlagen und getreten, weil wir sie aufklaubten.

MENSCHEN ALS ZIELSCHEIBEN

Nach 4 Tagen hatten wir dann Kiel erreicht, wo uns der SS Anführer und Lagerkommandeur mit den Worten empfing:“ Ihr Synagogenanbeter werdet eine herrliche Zeit mit mir verbringen!“ Wir mussten von Bomben getroffene Häuser in Kiel in Stand bringen und wurden unmenschlich behandelt. Jeden Abend zeigte uns der SS Anführer Baumann, wie gut er schiessen konnte. 30 Insassen des Lagers mussten auf diese Weise ins Gras beissen. Wir alle sahen mittlerweile aus wie Skelette, und wir waren jetzt in dem Stadium, dass die Beine unsere Körper fast nicht mehr tragen konnten. Beine und Füsse waren voll Wasser und stark angeschwollen. Am 30. April wurde uns befohlen, die blutdurchtränkte Kleidung derer anzuziehen, die am Vortag erschossen worden waren. Uns schwante nichts Gutes, da viele Kameraden ihre letzte Reise in zerrissenen Kleidern angetreten hatten. Aber wir waren in einem solchen Zustand, daß es uns einfach egal war. Aber dann passierte das Unglaubliche. Am 1. Mai 1945 befreite uns das Dänische Rote Kreuz aus dieser Hölle und brachte uns in die Freiheit zurück.

Dieser Bericht gibt nur bruchstückhaft wieder, was uns an Schrecklichem widerfahren ist.

Quelle: Jewish Central Information Office, Berichte einiger überlebender Juden, Dokumente über die Schuld der Nazis; Nr. 4


Übersetzung aus dem Englischen: Claudia Thul, 16. Dezember 2018

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Andreas Jordan, Januar 2019

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