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Erinnerungen von Gerald J. Newall (Gerd Josef Neuwahl)

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Gerd Josef Neuwahl

Gerd Josef Neuwahl wurde am 29. August 1926 in Gelsenkirchen geboren. Er war der einzige Sohn von Erich Neuwahl, der am 5. Februar 1892 in Gelsenkirchen geboren wurde. Gerds Mutter, Hilde Neuwahl, stammte aus Wattenscheid, wo sie unter dem Familiennamen Spiero am 8. April 1904 geboren wurde. Auch die Familie Erich Neuwahl wohnte wie die Großeltern an der damaligen Hochstrasse 31 (später in Nr. 43) in der Gelsenkirchener Altstadt. Heute heißt die damalige Hochstrasse Hauptstrasse.

Der am 29. Juni 1847 geborene Großvater Gerd Neuwahls, Josef Neuwahl, war aus Liebenau nach Gelsenkirchen gekommen. Josef Neuwahl war ein angesehenes und aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde, sein Name findet sich auch auf der Wahlliste von 1894 für die Gelsenkirchener Synagogengemeinde. Er starb jedoch schon vor der Geburt seines Enkels am 11. Juli 1919 und wurde auf dem jüdischen Friedhof an der Wanner Straße bestattet. Gerd Neuwahls Großmutter, Sophie Neuwahl, wurde bereits 1893 zur 1. Vorsitzende des jüdischen Frauenvereins in Gelsenkirchen gewählt und hatte dieses Amt viele Jahre lang inne. Sie engagierte sich für die Seelsorge, Wohltätigkeit und Pflege des jüdischen Brauchtums. Sophie Neuwahl, die als Sophie Rubens am 27. Dezember 1852 in Gelsenkirchen zur Welt kam und damit zu einer der ältesten jüdischen Familien Gelsenkirchens gehörte, starb am 26. April 1920 und wurde neben ihrem nicht einmal ein Jahr zuvor gestorbenen Ehemann beerdigt.

Die Familie Neuwahl betrieb neben dem Kino "Schauburg" an der Bahnhofstrasse ein kleines Eis- und Schokoladengeschäft. Während Gerd Neuwahl die allgegenwärtige Diskriminierung jüdischer Kinder bzw. Schüler erlitt, wurde den Eltern durch Schikanen der Nazis das Weiterführen ihres Geschäftes unmöglich gemacht. Der Verlust der Lebensgrundlage führte bei Familie Neuwahl zu dem Entschluss, Deutschland zu verlassen. Da es schwierig war, in die USA zu gelangen, entschloss man sich zur Flucht nach Südamerika.

Im Unterschied zu anderen Familienmitgliedern, die in Deutschland blieben, rettete die Flucht nach Kolumbien die Familie. In Bogota konnte sich die Neuwahl's erneut eine Existenz aufbauen. Gerd Neuwahl, der sich nun Gerald Joseph Newall nannte, konnte seine Ausbildung machen, besuchte verschiedene Schulen und wanderte schließlich 1948 in die USA aus, wohin ihm dann seine Eltern folgten.

Flucht nach Kolumbien - Bericht von Gerald J. Newall

Ich erinnere mich nur dunkel an mein Geburtshaus in der Hochstraße, an Spaziergänge im Stadtgarten und Straßenbahnfahrten zu meiner Großmutter und anderen Verwandten in Wattenscheid. Andere Erinnerungen haben sich stärker in mein Gedächtnis eingeprägt. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, war ich im ersten Schuljahr in der jüdischen Schule an der Ringstraße. Ungefähr zwei Jahre später wurde uns diese schöne, moderne Schule weggenommen, und den jüdischen Kindern wurde eine alte, lange nicht mehr benutzte Schule an der Josefstraße zugewiesen. Es bedeutete für mich wie auch für viele andere einen erheblich längeren Weg zur Schule.

Meine Eltern wollten mich nicht allein gehen lassen, und so gingen wir fast immer zu zweien, dreien oder vieren. Trotzdem wurden wir sehr oft von anderen Kindern beschimpft und mit Prügeln bedroht. Bisher war ich immer gern zur Schule gegangen, aber in den letzten zwei Jahren dort hatte ich oft Angst, denn ich wusste ja nie, was mir auf dem Weg zu oder von der Schule geschehen würde.

Was ich auch noch ziemlich klar in Erinnerung habe sind die Schwierigkeiten, die die Nazis meinen Eltern machten, ihre damalige Existenz fortzusetzen. Wir hatten zu der Zeit ein Eis- und Schokoladengeschäft an der Bahnhofstraße. Es war eins der kleinen Lokale an der Schauburg, damals ein Kino. (Wie ich bei einem sehr kurzen Besuch in Gelsenkirchen vor ungefähr sechs Jahren feststellte, ist jetzt in diesem Lokal ein Fotohandel.) Die Behörden verlangten unmögliche Änderungen und Verbesserungen, so dass meine Eltern gezwungen wurden, ihr Geschäft dort zu schließen. Ein neues Lokal konnten sie nicht finden, denn die Besitzer durften nicht mehr an Juden vermieten. Nach reiflicher Überlegung beschlossen meine Eltern sich deshalb zur Auswanderung. Ich bezweifle nicht, dass diese Entscheidung uns das Leben rettete, denn fast alle der in Deutschland gebliebenen Familienmitglieder kamen einige Jahre später in Konzentrationslagern oder Ghettos ums Leben.

Zur Zeit unserer Auswanderung im Jahre 1936 war es sehr schwer, in die USA einzuwandern, denn man musste dort Verwandte oder Freunde haben, die als "Sponsor" dienen könnten. Im Gegensatz dazu war Kolumbien ein verhältnismäßig einwanderfreundliches Land, wo man nur eine kleine Geldsumme hinterlegen musste, um zu garantieren, dass der Einwanderer dem Staat nicht zur Last fallen würde. Dieses Geld bekam man dann nach ein oder zwei Jahren zurück.

Als wir Gelsenkirchen verließen, fuhren wir zuerst mit der Eisenbahn nach Holland, wo wir ein paar Tage bei Verwandten verbrachten. Dann bestiegen wir einen holländischen Frachtdampfer für die dreiwöchige Fahrt, durch den Panama-Kanal zur Westküste Kolumbiens. In diesen drei Wochen bemühten wir uns, aus Lehrbüchern ein wenig Spanisch zu lernen. Während meine Eltern sich natürlicherweise um die Zukunft Sorgen machten, war dies alles für einen zehnjährigen Jungen ein wunderbares Abenteuer!

In Bogota, der Hauptstadt Kolumbiens, schafften sich meine Eltern langsam eine neue Existenz, während ich meine Erziehung fortsetzte. Nach vier Jahren in einer höheren Schule und weiteren zwei Jahren in einer staatlichen Handelshochschule, arbeitete ich mehrere Jahre als Spanisch-Englischer Sekretär. 1948 bot sich mir die Gelegenheit, nach U.S.A. weiterzuwandern, wo ich in den ersten zwei Jahren kleinere Stellungen im Exporthandel einhielt. Dann folgten zwei Jahre Dienst in der amerikanischen Armee. Dieser Militärdienst ermöglichte es mir, die Universität zu besuchen und mich als Fremdsprachenlehrer ausbilden zu lassen. Als solcher habe ich 31 Jahren an höheren Schulen (Gymnasien) Spanisch, Deutsch und Englisch für Ausländer unterrichtet. In den 13 Jahren seit meiner Pensionierung habe ich 2 bis 3 Tage in der Woche als Berater (Counselor) bei einem Studentenaustausch gearbeitet.

Nachdem ich in die Vereinigten Staaten weitergewandert war, blieben meine Eltern noch weitere fünf Jahre in Bogota. Nachdem sie sich überzeugt hatten, dass ich in den Staaten bleiben wollte, verkauften sie ihr Geschäft in Bogota und folgten mir nach Kalifornien - zuerst San Francisco, später San Diego. Mein Vater, Erich Neuwahl, starb 1977; meine Mutter, Hilde Neuwahl geb. Spiero, starb 1983. Meine Familie besteht aus meiner Frau und zwei jetzt erwachsenen Kindern.

Gerald J. Newall sandte seinen Lebensbericht im April 2001 an das Institut für Stadtgeschichte. Erstveröffentlichung des Berichtes in: Stefan Goch, "Jüdisches Leben, Verfolgung-Mord-Überleben", Essen 2004.

Gerald J. Newall starb am 3. Juni 2010 in San Diego, Chula Vista, Kalifornien.


Email an Andreas Jordan schreiben Andreas Jordan, Juli 2011. Gelsenzentrum - Verein für regionale Kultur- und Zeitgeschichte Gelsenkirchen

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