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Otto Schwerdt: Wie ich aus Auschwitz rauskam

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"Die Erinnerung ist eine Pflicht gegenüber den Toten"

Otto Schwertd

Als Gott und die Welt schliefen

Bild: Otto Schwerdt

Bild: Otto Schwerdt starb am 30. Dezember 2007

Otto Schwerdt hat Auschwitz überlebt. Er lebt heutzutage in Regensburg und hat vor einigen Jahren zusammen mit seiner Tochter Mascha Schwerdt-Schneller das Buch 'Als Gott und die Welt schliefen' veröffentlicht. Er hält in Schulen Vorlesungen aus seinem Buch. 'Die Erinnerung ist eine Pflicht gegenüber den Toten' ist sein Motto. Immer liest er dann auch die Stelle, wie er aus Auschwitz rauskam.

Otto Schwerdt, 1923 in Braunschweig geboren, flieht 1936 mit seiner Familie nach Polen. 1943 ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, überlebt er zusammen mit seinem Vater den Holocaust, seine Mutter, seine Schwester und sein Bruder werden von den Nationalsozialisten ermordet. Vor einigen Jahren hat Schwerdt, der seit 1954 in Regensburg lebt, begonnen zusammen mit seiner jüngsten Tochter seine Leidensgeschichte aufzuarbeiten.

(...) Einmal empfing mein Vater Schlamek und mich mit leuchtenden Augen. "Heute habe ich etwas ganz Besonderes für die Kartoffeln eingetauscht", erzählte er uns, "Machorka Tabak." Das ist nicht wahr, dachte ich. Er kann doch für die geklauten Kartoffeln keinen Tabak eintauschen! Dass dies weniger Brot für uns bedeutete, war ihm in diesem Moment gar nicht bewusst. Er war so glücklich mit seinem Machorka, dass wir uns nichts von unserer Enttäuschung anmerken ließen. Später sah ich Schlamek am Boden sitzen. Er kämpfte mit den Tränen.

Die Arbeit in der Kartoffelschälküche hatte noch einen wichtigen Vorteil. Wer dort arbeitete, musste an keiner Selektion mehr teilnehmen. Alle Häftlinge, die zu einer bestimmten Arbeit eingeteilt waren, durften vor der Selektion den Block verlassen und zur Arbeitsstätte gehen. Wenn eine Selektion bevorstand, nahmen Schlamek und ich meinen Vater in unsere Mitte und gingen gemeinsam zur Kartoffelschälküche. Dort versteckten wir ihn. Der Küchenkapo ließ es zu.

Es konnte einem aber auch gehen wie dem Häftling Jakob. Er arbeitete gerade in der Kartoffelschälküche, als die Nazis über Lautsprecher seine Nummer. für die nächste Vergasung ausriefen. War es ein Schreibfehler? Er war wie versteinert. Plötzlich fing er an zu schreien und zu weinen. "Ich war doch bei keiner Selektion, sie können meine Nummer nicht haben!" Doch es half nichts. Er musste gehen. "Ich darf kein Mitleid empfinden, keine Gefühle zulassen", dachte ich, doch es gelang mir nicht. Mir war klar, dass wir nicht mehr lange in der Kartoffelschälküche arbeiten konnten. Solang der Küchenkapo noch zufrieden mit dem "Bestechungsobjekt" war und nicht mehr forderte, hatten wir Glück. Aber es kamen neue Häftlinge nach, die sich auch einen Platz in der Küche erkaufen wollten. Unser Brillant würde bald nicht mehr reichen.

Neben den Kartoffeln klauten Schlamek und ich auch immer ein wenig Trockengemüse in der Küche. Beim Morgenappell steckten wir es dann Freunden zu. Sie wickelten es in kleine Papierfetzen und hatten so etwas zum Rauchen. An einem Abend im Oktober wurde ich beim Klauen erwischt. Die Arbeit war zu Ende, und die Häftlinge gingen zu ihrem Block. Wie so oft kam ich an dem Bottich mit dem Trockengemüse vorbei. Schnell nahm meine Hand, was sie packen konnte, und ich stopfte mir die Beute in die beiden vorderen Hosentaschen. Dann ging ich weiter. Am Ausgang der Kartoffelschälküche fiel ich dem jungen SS-Mann auf.

"Was hast du da?" fragt er, und zeigt auf meine Hosentaschen.

"Nichts, wirklich nichts", sage ich. Ich habe wahnsinnige Angst.

"Leer die Taschen hier auf den Tisch", fordert er. Ich lege alles auf den Tisch. Jetzt ist es aus. Er wird mich erschießen. Er zieht mich am Arm rüber zum Bock, einem Holzgestell, das sie extra für Bestrafungen entwickelt hatten. Was hat er mit mir vor?

"Hose runter! Bück dich!" befiehlt er sehr beherrscht. Er schlägt mir mit einem Stock 25mal auf den Hintern. Jeden Schlag muss ich laut mitzählen. Es tut höllisch weh. Ich halte es nicht aus. Ich falle auf den Boden. Ich spüre, wie er meinen Arm hochzieht.

"Nein, nicht meinen Arm", schießt es blitzartig durch meinen Kopf, "er darf auf keinen Fall meine Nummer sehen." Doch ich kann mich nicht wehren. Er schreibt meine Nummer auf einen Zettel.

Bei der nächsten Selektion gehst du ins Gas", sagt er und geht raus.

Irgendjemand bringt mich in den Block. Bei der nächsten Selektion werde ich dabei sein. Sie werden mich vergasen. Mein Vater und Schlamek sind sehr verzweifelt, beide suchen nach einem Ausweg für mich. Ich bin in einer seltsamen Stimmung. Verzweiflung und Gefasstheit wechseln sich ab. Ich weiß jetzt, dass ich sterben werde. Ich fühle sogar eine Art Erleichterung. Ich muss nicht mehr jeden Tag ums Überleben kämpfen, ich werde nicht mehr gehetzt und gejagt. Diese Gewissheit gibt mir eine innere Ruhe, die ich schon lange nicht mehr gespürt habe.

Ich weiß, wie es ablaufen wird. Bei der Selektion wird meine Nummer aufgerufen werden, ich werde mich mit den anderen auf dem Appellplatz aufstellen, mich nackt ausziehen und losgehen. Dann muss ich die Minuten überstehen, in denen ich keine Luft mehr bekomme. Von diesem Tag an durfte ich nicht mehr in der Kartoffelschälküche arbeiten. Ich denke nochmal über den jungen SS-Mann nach. Während des ganzen Geschehens in der Küche war er überraschend ruhig. Schob auch er hier in Auschwitz seine Gefühle weg, sein Mitleid, sein ganzes Menschsein? Nahm er uns überhaupt als Menschen wahr? Ich glaube nicht. Genau wie sie uns die Nummer einbrannten, brannten sie in diese jungen Gehirne eine teuflische Ideologie. Ihr Denken, ihr Fühlen, ihre Seele wurden verseucht. Sie empfinden nicht mehr menschlich.

Wenn ich den SS-Mann vor mir sehe, habe ich das Gefühl, dass die nationalsozialistische Krankheit ihn noch nicht vollständig befallen hat. Er hätte mich auch sofort erschießen können. Doch er hält Abstand. Er selbst tötet nicht, er lässt töten. Mein Vater gab nicht auf und bat jeden, den er kannte, um Rat und um Hilfe. Schließlich fand er einen Weg, wie ich vor der nächsten Selektion bewahrt werden konnte. Immer wieder forderten andere Lager Juden als Arbeitskräfte an. Für diese Transporte fand eine gesonderte Auswahl statt. Wann so ein Transport bevorstand, wusste der Schreiber des Schreibbüros als erster. Es war also sehr wichtig, einen Schreiber zu kennen. Mein Vater kannte den neuen Schreiber unseres Quarantänelagers noch aus Dombrowa. Er erzählte meinem Vater, dass noch vor der nächsten Selektion zwei Transporte für verschiedene Außenlager zusammengestellt werden sollten. Er selbst würde versuchen, mit einem dieser Transporte von hier wegzukommen. Vielleicht gelänge es Schlamek, Vater und mir auch. In welches Lager die Menschen gebracht würden, konnte er uns damals nicht sagen. Aber für uns war nur eines wichtig: weg von Auschwitz.

Die Auswahl für den ersten Transport fand statt. Wir vereinbarten, dass mein Vater ungefähr zehn Häftlinge vor uns gehen sollte. Er würde uns ein Zeichen geben, wenn er genommen wäre. Ein SS-Hauptsturmführer musterte die Häftlinge und wählte aus. Mein Vater ist dran. Er wird nicht genommen. Ich kann meinen Vater nicht alleine lassen, wir müssen zusammenbleiben. Ohne meinen Vater gehe ich nicht. Schlamek denkt wie ich. Wir haben ja noch eine Chance beim zweiten Transport. Schlamek und ich machen uns etwas kleiner, senken den Kopf und stehen verkrampft da. Der SS-Mann schaut über uns weg.

Am Nachmittag desselben Tages findet die Auswahl für den zweiten Transport statt. Schlamek und ich stellen uns, genau wie beim ersten Mal, kränklich und schwach in die Reihe. Ich bin in Gedanken und habe einen Augenblick nicht auf meinen Vater geachtet. Als der SS-Hauptsturmführer vor mir steht und fragt: "Sind Sie gesund?", schießt es durch meinen Kopf. Was ist mit Vater? Was soll ich tun? Er steht etwa fünf Meter vor mir in der Schlange. Er dreht sich um, sieht mich an und hebt die Hand. Das ist das vereinbarte Zeichen. Augenblicklich richte ich mich auf und stehe stramm.

"Ja, ich bin vollkommen gesund", antworte ich in akzentfreiem Deutsch. Der SS-Mann sieht mich verwundert an, mein gutes Deutsch überrascht ihn. Er wählt mich für den Transport aus. "Und jetzt Schlamek! Zeig auf Schlamek, du verdammter Nazi!" treibe ich den Hauptsturmführer in Gedanken an. Schlamek strahlt ihn richtig an. Auch er wird genommen. (...)

Zitat aus: Otto Schwerdt, Mascha Schwerdt-Schneller, "Als Gott und die Welt schliefen" Viechtach, 1998, S. 61-64



Andreas Jordan, April 2009


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