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Zeitzeugen: Erzähl' uns doch mal von damals...

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Grete und Ruth erinnern sich

Bild: Grete Raddatz und Ruth Grzywatz, Gelsenkirchen

Bild: Grete Raddatz und Ruth Grzywatz, Gelsenkirchen

Frage: Da fährt eine Straßenbahn Gemüse durch die Stadt. Da wird Tabak im Garten angebaut. Da werden die Bürger aufgefordert, Seidenraupen zu Hause zu züchten: Bilder aus Gelsenkirchen zur Zeit des zweiten Weltkrieges. Sie haben damals hier gelebt. Wie ist es Ihnen in diesen Jahren gelungen zu überleben?

Grzywatz: Damals hat man sehr vieles möglich gemacht, indem man einiges versetzt hat. Mein Vater, die Männer in unserer Verwandtschaft, davon waren viele auf'm Pütt. Und die Männer auf der Zeche bekamen schon mal eine Flasche Schnaps oder Tabakwaren als Deputat, und das wurde dann umgesetzt in Lebensmittel beim Bauern. Da bestand die Möglichkeit, daß man einen Beutel Mehl bekam oder ein paar Kartoffeln oder Raps. Raps war damals ganz groß "in", weil man da Öl draus machen konnte.

Frage: Wie hat man das gemacht?

Bild: Ruth Grzywatz, Gelsenkirchen

Bild: Ruth Grzywatz, Gelsenkirchen. Sie wurde 1929 als Tochter eines Bergmanns geboren

Grzywatz: Ja, das war so eine Art Fleischwolf. Da kam dann irgendwie eine Presse drauf und damit wurde der Rapssamen ausgepreßt. Da tropfte auf der einen Seite das Öl raus, und auf der anderen Seite kamen die Hülsen raus, wie eine Wurst zusammengepreßt. Das war natürlich Marke Eigenbau. Es wurde in diesen Jahren ja viel erfunden. Das hat man sich gegenseitig unter Bekannten und Verwandten dann auch ausgeliehen.

Frage: Sie haben gesagt, Sie hätten Kartoffeln eintauschen können beim Bauern, etwas Mehl... Was wurde dann daraus gekocht?

Grzywatz: Vor allen Dingen Suppe. Suppe war das A und 0. Damit konnte man einiges machen. Die Suppe konnte man verlängern, verdicken, verdünnen, je nach dem, wie es einem einfiel.

Bild: Grete Raddatz, Gelsenkirchen

Bild: Grete Raddatz, sie wurde 1916 in Gelsenkirchen-Erle geboren, war Verkäuferin in einem Feinkostgeschäft.

Raddatz: Und wenn kein Fleisch da war, dann wurde Kartoffelsuppe mit Rapsöl gemacht. Grünes war im Garten. Wir waren ja hier alle in der Lage, einen Garten zu haben. Da wurde Grünes angebaut: Petersilie, Porree, ein paar Möhren. Und das kam dann auch in die Suppe. Und dann — ich habe ja gearbeitet, und da habe ich gesehen, daß ich der Mutter immer ein bißchen was mit nach Hause brachte.

Frage: Wo haben Sie gearbeitet?

Raddatz: In Buer bei der Epa, damals hieß das noch Epa, später Kepa...

Frage: Einer Art Supermarkt!?

Raddatz: Ja. Als Verkäuferin.

Frage: Und da ging dann auch mal was unter der Theke weg?

Raddatz: Das kann ich Ihnen wohl flüstern. Für ein Ei habe ich eine Batterie gegeben oder ein bißchen Speck gekriegt. Da kam dann der Onkel Heini - so nannten wir unseren Chef -, der kam dann. Der hatte mit allen da rumgekungelt. Woher der die Sachen hatte, weiß ich nicht. Jedenfalls war ich von der Lebensmittelabteilung in die Lampenabteilung gekommen, da gab es aber auch elektrische Ersatzteile und alles so'n Kram. Ja, und wenn wir eine Zuteilung an Batterien bekamen, dann kriegte erstmal das Personal etwas davon. Nicht alle. Nur die, mit denen wir uns gut standen. "Hör mal, ich brauche einen Aufnehmer, kannst 'ne Batterie haben!" Und der Onkel Heini kam: "Ich brauche Batterien!"

Ja, wieviel? Und was kriegen wir dafür?"

"Ja, u. T.!"

Frage: U. T.?

Raddatz: Also "unter der Theke". Ja, und mittlerweile hat der Chef dann gemerkt, daß nicht nur er gekungelt hat, sondern auch wir. Ich wurde dann dienstverpflichtet, so gut konnte der mich leiden. Ich mußte zum Hydrierwerk, nach Scholven! Also gezwungenermaßen arbeiten. Ich war in der Benzinherstellung. Und da mußte ich dann Wechselschicht machen. Morgenschicht, Mittagschicht, Nachtschicht, gearbeitet haben wir genau wie die Männer.

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Frage: Was hat man denn da gegessen. Ist man da auf dem Werk verpflegt worden?

Raddatz: Von wegen! Die Schnitte Brot mußte man sich mitbringen! Dabei hab' ich übrigens meinen Mann kennengelernt.

Frage: Beim Essen?

Raddatz: Bei 'ner Stulle! Das war so: Im Werk und auf der Nachtschicht, da kamen die, die immer Reparaturdienst hatten, unten in dem Bedienungsraum zusammen. Na, da haben wir uns quasi so in die Augen geguckt, so halb verliebt. Und da hat er sein Butterbrot ausgehackt, da hatte der gebackenes Ei drauf. Und ich habe da so lechzend hingeguckt. Da hat er mir das Brot gegeben und hat gesagt: "Komm, iss das!" Ja. So hat das mit meinem Mann angefangen. Später hat er dann erzählt, daß sie auch noch ein Schwein haben, da hatte ich Schwein im doppelten Sinne, nicht?! Ja, wer ein Schwein hatte – und wir hatten keins – das war schon was. Der konnte besser durchkommen.

Grzywatz: Wir hatten ein Schwein. Wir hatten das Glück. Wir hatten einen Garten und noch ein Stückchen Land dazu. Als Mutter noch zu Hause war, hatten wir ein Schwein, und damit haben wir uns wirklich über Wasser gehalten. Fett war das A und 0: Man tat ein paar Zwiebeln in die Pfanne, ein bißchen Fett rein, ein bißchen Mehl rein, da hatte man Schmalz und hatte die ganze Woche was aufs Brot davon, das war wirklich immer gut. Und wenn man Suppe kochte, dann kam da etwas Speck dran und noch ein paar schöne Brotstückchen, in Fett gebacken.

Frage: Wer hat denn das Schwein geschlachtet?

Grzywatz: Der Metzger. Sie durften ja nichts alleine machen, das war ja alles unter Kontrolle. Da konnte man nicht mal ein Stück unter der Hand wegmogeln. Das gab es nicht. Das wurde alles genau registriert. Aber ich kann mich da noch an einen Fall erinnern: Wir hatten ein Schwein im Stall. Und auf einmal wurde das krank. Rotlauf! Das Fleisch muß ja dann an und für sich vergraben werden, weil Rotlauf ja eine Krankheit ist, die sehr gefährlich werden kann. Aber eher für Futtertiere als für Menschen. Dann wurde das Schwein also tot gemacht, und dann haben wir den Trichinenbeschauer angerufen und haben das gemeldet. Der kam dann. Und der hat uns dann Tips gegeben: Wenn wir die Haut, also die Schwarte von dem Schwein ablösten, konnten wir das Fleisch im Moment noch essen. Also sozusagen zum alsbaldigen Verbrauch bestimmt. Er hat aber dann so getan, als wenn wir das vergraben hätten. Davon konnte man natürlich nichts einkochen oder pökeln. Das nicht. Aber es gab ein großes Festessen. Das durfte natürlich keiner merken, sonst war das zu gefährlich.

Raddatz: Also unter der Hand wurde sowieso manches Schwein geschlachtet, das steht fest. Ja, dann wurde das Radio ganz laut gedreht, daß keiner das Schreien vom Schwein hörte. Das war ja alles ganz gefährlich. Auf Schwarzschlachtung stand ja die Todesstrafe.

Grzywatz: Wir hatten Nachbarn, ein älteres Ehepaar, die nun gar nichts hatten, keine Hühner, keine Schweine, die nun auch gar nicht so raus kamen. Die baten dann meine Mutter, die Kartoffelschalen nicht wegzuwerfen, obwohl wir ja ein Schwein im Stall hatten, das das genauso hätte gebrauchen können. Die Mutter hat dann immer heimlich im Kellerfenster ein Körbchen rausgestellt. Da waren die froh. Ich nehme an, daß da auch noch ein paar Kartoffeln mit drin waren. Denn es ging uns ja noch einigermassen gut, nicht, wir hatten eine Großmutter, die in Ostpreußen wohnte, die schickte uns dann auch immer noch was.

Und da waren die Nachbarn dann froh, daß sie Kartoffelschalen bekamen. Da half man sich dann eben. Zum Beispiel: Es hatten auch alle hier einen Garten. Und wenn bei uns der Kohl dann - der wurde ja immer abgebrochen - oder die Runkelblätter, wenn die abgebrochen waren, man hatte nichts mehr, und der Nachbar hatte noch was im Garten, der hat uns dann zeitweise was zukommen lassen. Dann hat man gesagt: "Nächstes Mal, wenn unser Kohl so weit ist, dann kriegt Ihr mal wieder was!"

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Raddatz: Ja. Kohl und Kappes, das hat man gegessen.

Grzywatz: Da haben die dann auf der Zeche eine Großküche eingerichtet, für die Leute da. Das weiß ich. Vater war in der Schreinerei, und der brachte da wohl immer Holz hin. Und er bekam da auch immer einen Teller Suppe ab: Kappessuppe oder Brotsuppe oder Hirsesuppe. Das war ja egal, Hauptsache was Eßbares. Und Vater brachte dann abends seine Ration mit, die hatte er ja nun nicht gegessen. In so 'nem kleinen Marmeladeneimer. Oben drauf lagen dann ein paar Scheiben Brot. Heute würde das ja niemand mehr anschauen, geschweige denn essen. Aber für uns war das sehr viel. Von dem Brot konnte man wieder was anderes machen oder in der Pfanne rösten. Und von dieser Kappessuppe oder Wasserkappessuppe haben wir darin noch gelebt und sind auch satt geworden.

Frage: Das war also dann eine Art Eintopf. Es gab aber doch damals auch diese Eintopfsonntage?

Raddatz: Ja, Eintopf haben wir eigentlich immer gehabt, aber ein Sonntag im Monat, der wurde "Eintopfsonntag" genannt. Das stand im Kalender. Und da ging die NSV sammeln ...

Frage: Das ist die "Nationalsozialistische Volkswohlfahrt" gewesen!?

Raddatz: Richtig. Da sollte das Geld gegeben werden, was man einsparte, wenn man Eintopf statt Sonntagsbraten aß. Und da gingen die von Haus zu Haus und haben in die Töpfe geschaut, ob die Leute auch wirklich Eintopf aßen. Und einen Sonntag, da sind die ins Haus gekommen mit der Büchse und wollten sammeln. Und da sagt mein Bruder: "Ja, meine Mutter ist Witwe, und wir essen ja eigentlich durchweg immer Eintopf, wir haben ja noch nicht mal Sonntagsbraten." Und wollte nichts geben. Ja, da gab's Schwierigkeiten. Der da gesammelt hat, das war ein Polizist, und der hat uns angezeigt.

Dann mußte mein Bruder auf die Polizeiwache, ich wurde auch geladen. Mein Bruder hat dann die Sache auseinandergelegt und kam dann zu mir raus und hat gesagt: "Komm, komm, für Dich ist die Sache schon gelaufen, Du brauchst gar nichts mehr zu sagen." Und es ist dann auch nichts nachgekommen. Haben wir eben Glück gehabt.

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Frage: Woraus hat man denn die Eintöpfe gekocht?

Raddatz: Kappes, viel Kappes haben wir gegessen. Man war ja froh, daß man was hatte.

Grzywatz: Auch Steckrüben. Das war das A und 0. Steckrüben! Und dann hat man das viel mit Mehl gemacht. Das alles ein bißchen fest zu machen. Der Magen hat ja einfach was verlangt. Wir haben ja auch nicht des öfteren am Tag essen können, denn es gab meist nachts noch Fliegeralarm. Und dadurch wurde der Körper natürlich erheblich strapaziert. Bei uns war das dann so, daß wir am Abend was Derbes gegessen haben, da gab's dann Bratkartoffeln oder einen kräftigen Eintopf.

Raddatz: Zu den Bratkartoffeln, da hatte meine Tante mir einen Tip gegeben und hatte mir gesagt, damit ich Fett sparen konnte: "Gieß mal 'n bißchen Kaffee dran, damit die Bratkartoffeln schön braun werden, nicht!"

Grzywatz: Damals gab's ja keinen Bohnenkaffee, sondern Kornkaffee, den wir in der Pfanne geröstet hatten... Ich riech' das heute noch! Ich mochte den Geruch. Stank zwar ein bißchen, aber ich mochte den Geruch. Die Kartoffeln waren natürlich ein bißchen matschig, aber dann habe ich sie einfach länger in der Pfanne gelassen, dann wurden die nachher doch schön, ein bißchen trocken und braun. Und da gab's Milchsuppe dabei, wenn Milch da war.

Raddatz: Da gab es doch dieses Kinderöl, wie heißt das noch?

Grzywatz: Lebertran ...?

Raddatz: Richtig. Lebertran. Da hat meine Schwester – die hatte keinen Mann mehr, der ist unterwegs von Tieffliegern erschossen worden, die hatte zwei schulpflichtige Kinder – da hat die mit diesem Lebertran Pfannkuchen gebacken. Das hat entsetzlich gestunken. Ja, die mußte den Kindern ja was geben, die hatten ja Hunger.

Grzywatz: Die Kinder haben ja in den letzten Kriegsjahren auch voll im Arbeitseinsatz gestanden. Mit uns zusammen, nicht. Ich war ja schon älter und mußte beim BDM mit ran. Erst diese Sammelaktionen, und dann wurden wir eben verpflichtet, wenn ein besonders schwerer Luftangriff war, die Aufräumungsarbeiten zu machen. Erstmal mußten wir natürlich mithelfen, die Leichen, die Verletzten aus den Kellern zu bergen.

Ich kann mich auch noch erinnern — da waren wir in Horst, Schloß Horst. Da wurde dann alles arrangiert für die Ausgebombten. Wir durften Butterbrote schmieren, eine Gulaschkanone wurde aufgefahren ... Wo das manchmal herkam, war uns selbst ein Wunder. Plötzlich waren Nudeln da. Wir kriegten ja gar nichts. Es war zwar viel Maggi dran, aber es schmeckte. Ja, das waren Situationen mit diesen Obdachlosen.

Ich weiß noch, da war ein Herr, der war im Sammellager im Schloß Horst, der kam von der Zeche und hat die Frau und sechs Kinder verloren. Und diese Situationen, die man da erlebt hat als junger Mensch, die kann man nicht so einfach vom Tisch putzen. Ich bin da sowieso ein bißchen sensibel in solchen Beziehungen, ich kann auch hart sein gegen mich selbst, aber da waren doch Situationen, die gingen einem sehr an die Nieren. Irgendwie hat man doch ein Herz. Ich kann mich noch erinnern – hier an der Ecke von der Siedlung, da war ein Lebensmittelgeschäft, ich mußte einkaufen.

Und da ging ich so die Straße lang. Und da kam so ein Trupp russischer Gefangener in barfuß und zwei Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. Da bin ich stehen geblieben, ich mußte mir das anschauen. Und der eine von den Soldaten, der war unverschämt, der hat einem russischen Gefangenen immer so in die Hacken getreten mit seinen dicken Stiefeln. Und da habe ich gesagt: "Was soll denn das?" Da kam der auf mich zu, gab mir eine Ohrfeige und sagte: "Du hast aber nichts gesehen!" Durch so was ist man nachdenklich geworden. Das können Sie mir glauben!

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Andreas Jordan, Mai 2009


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