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Hildegard Sauer-Rave erzählt

Bild: Hildegard Sauer-Rave

Bild: Hildegard Sauer-Rave

Hildegard Sauer-Rave wurde 1910 geboren. Nachdem Sie dass Gymnasium absolviert hatte, studierte Kunst an der Folkwang-Schule in Essen. Sie arbeitete Später als Malerin in Gelsenkirchen. Hildegard Sauer-Rawe, die eine Tochter hatte, starb vor einigen Jahren in Gelsenkirchen:

"Ich habe in den Kriegsjahren bis 1943 in Gelsenkirchen gelebt. Mein Vater wurde gleich in den ersten Kriegstagen zum SHD einberufen, zum Sanitätshilfsdienst. Er war dann da wie kaserniert. Und ich war mit meiner Mutter allein. Mein Vater ist ja damals schon ein alter Mann gewesen, er hatte den ersten Krieg schon mitgemacht. Die Leute vom SHD mussten außerhalb der Wohnung in einer alten Schule schlafen. Und das ist ihm natürlich schwergefallen. Die wurden eingesetzt, wenn in den bombenbeschädigten Häusern irgendwelche Aufräumungsarbeiten gemacht werden mußten. Und das mit meinem Vater. Der war nicht sehr geschickt in solchen Dingen. 1943 ist ihm dabei dann auch ein Eisenträger auf den Kopf gefallen, und er hat lange im Spital gelegen und ist sehr krank gewesen. Mein Vater war ein verwöhnter Mann. Und nun diese Arbeit und dazu Gemeinschaftsverpflegung. Er hat gar nicht da essen können. Und alle die Brotrationen, die er da bekam, die haben wir einer jüdischen Familie gebracht, die in der Klosterstraße gewohnt hat. Ich habe dieser alten Frau, die nachher dann in Theresienstadt umgekommen ist, selbst das Brot gebracht. Und als dann die Gestapo kam, das weiß ich noch, als die Gestapo vorne reinkam, bin ich hinten durch das Badezimmerfenster in den Garten gesprungen. Das war streng verboten. Man durfte mit den Juden ja überhaupt keinen Kontakt haben. Nur – wer heute sagt, er hätte das nicht gewußt ... Da musste man die Augen schon sehr fest zumachen: Wer gewollt hat, der wußte das auch, was mit den Juden geschehen ist.

Die Lebensmittellage in Gelsenkirchen, die war in den Kriegsjahren nicht gerade rosig. Das schlimmste war, es gab ja auf die Lebensmittelkartenabschnitte meist nicht, was drauf stand. Da standen die Leute oft schon nachts ums Brot an, aber wenn dann kein Brot mehr da war, dann bekamen sie auch auf Marken eben kein Brot mehr. Um die Rationen ein bißchen aufzubessern, bin ich dann oft nach Haltern rauf gefahren, wir hatten da Verwandte, da konnte man was kriegen. Meist mit dem Fahrrad. Es fuhren zwar Züge, aber das war gefährlich.

Kurz vor Haltern, da ist eine Brücke, die ist heute noch da. Und die war zerbombt, da war kein Geländer mehr dran. Na ja, und die Leute sind auf den Trittbrettern mitgefahren, da saßen und standen oft mehr als im Zug drinnen. Und da hab' ich mal erlebt, wie da einer runtergestürzt ist. Da hat sich kein Mensch drum gekümmert, der lag dann da, und der Zug fuhr weiter.

Also mit dem Fahrrad gefahren, 32 Kilometer hin und 32 Kilometer zurück. Und auf dem Weg da hab ich bei der Gelegenheit dann auch Wildkräuter gesammelt. "An den Bächen", haben mir meine Kusinen gesagt, "da ist Kresse, da kann man herrlich Salat von machen!" Also habe ich dann Kresse gesammelt. Ich als Großstadtkind hatte ja gar keine Ahnung, wie man so was sucht oder wie das überhaupt aussieht. Das haben wir dann zu Hause fertig gemacht mit Essig und ein wenig Öl. Herrlich! Bis meine Mutter 'ne dicke Schnecke drin gefunden hat. Da mochten wir keinen Kressesalat mehr. So verwöhnt waren wir noch bei Kriegsbeginn. Später dann nicht mehr. Da hat man alles gegessen, was man kriegen konnte und irgendwie was draus gemacht.

Zum Beispiel Fett. Fett gab's ja kaum. Und wir haben dann das bischen Margarine, das wir bekamen, mit Zusätzen, mit Mehl oder Grießmehl oder Ei verrührt. So hat man das gestreckt und versucht zu verbessern. Und wenn man dann so ein wenig Butter hatte und ein bißchen Brot, dann haben wir das immer so gemacht: Auf die letzte Kante vom Brot haben wir dann die Butter gestrichen. Und dann hat man sich, wenn man anfing, das Brot zu essen, so gefreut — vorher das hat man trocken gegessen, und das lezte Stückchen war dann schön mit Butter beschmiert, nicht wahr, das hat man dann mit Wonne genossen. Fleisch gab's auch ganz selten. Und wenn es mal eine Fleischzuteilung gab, dann haben wir die aufgespart, so daß dann mal eine Menge zusammen kam, denn mein Vater war ja nicht da. Es war ja nur meine Mutter und ich. Wir konnten eine Zuteilung beanspruchen.

Und sonst gab's eben Fleischersatz. Bratlinge. Aus allem Möglichen. Aus Erbsen, aus Linsen. Zu Brei gekocht. Paniert und dann gebraten. Da war an der Grenze zwischen Gelsenkirchen und Wanne-Eickel ein Lebensmittelgeschäft. Mit der Besitzerin waren wir ein bißchen näher bekannt, und da gab es schon mal was extra. Im Winter 1942 auf 43 bin ich dahin mit meiner Mutter. Durch den Schnee zu Fuß sind wir zu diesem Lebensmittelgeschäft gegangen. Ich war hochschwanger. Im März 1943 ist meine Tochter geboren. Wir hatten auch was bekommen, unter anderem auch Erbsen. Zurück sind wir durch die Sophienau gegangen, die Sophienau ist eine alte Bergmannsiedlung mit so runden gepflasterten Straßen.

Nun lag, wie gesagt, Schnee, und es war glatt, und da bin ich hingefallen und hab' die ganzen Erbsen über den Weg gestreut. Ja, was machen? Da bin ich auf den Knien gelegen und habe jede einzelne Erbse aufgesucht. Meine Mutter hat sich aufgeregt und hat gesagt: "Mein Gott, jetzt ist deinem Kind was passiert." Aber ich habe gesagt: "Das fühlt sich wohl" und habe jede einzelne Erbse wieder schön in die Tüte getan, eher sind wir nicht nach Hause gegangen. Wer würde sich heute wohl bücken wegen einer Erbse?

Ja, 1943 im März wurde meine Tochter dann geboren. Wir hatten damals sehr schwere Luftangriffe auf Gelsenkirchen. Kurz bevor ich ins Krankenhaus mußte, war eine Brandbombe ins Haus neben uns gefallen. Und unser Haus war davon in Mitleidenschaft gezogen. Da bin ich mit meiner Tochter in die Nähe von Paderborn evakuiert worden. Mitten in einer Bauerngegend, wo die Leute in Überfülle gelebt haben, da habe ich wirklich das erste Mal Hunger gelitten. Wir waren dort ein Nichts. Den Leuten lästig. Wir waren eben nicht aus dem Dorf. Was heißt Dorf? Sechs Häuser waren das. Und ich wohnte beim Bürgermeister. Das war einer, der körperlich nicht grade gewachsen war. Und aus diesem Grunde wohl zog er immer mit einem Gewehr durch den Ort, das er an einem Bindfaden festgemacht hatte und hielt die Leute in Schach.

In dem Dorf war auch ein Polen-, Russen- und Franzosenlager. Und von diesen zwangsverschleppten Menschen, von denen hab' ich die beste Freundlichkeit erfahren. Nicht von den deutschen Bauern! Da bin ich mit allen Dingen, Kinderkleidern, alles, was ich so über hatte, mit meinen persönlichen Sachen, Bettwäsche hin. Das habe ich dann mitgenommen nachts und bin über den Hof an dem Misthaufen, an dem großen Schäferhund vorbeigekrochen und hab' dann bei Matka und Genoveva, zwei Polinnen, meine Sachen eingetauscht und kriegte dann ein Stückchen Wurst oder ein bißchen Butter oder ein Stückchen Fleisch. Denn die Zwangsverschleppten waren in diese sogenannte Selbstversorgung eingeschlossen. Die hatten auch nicht viel, aber mehr als wir.

Bei dem Bauern hatte ich ein Stückchen Flur zum Kochen. Da war einfach ein Bretterverschlag gemacht, das war meine Küche. Zum Wasserholen mußte ich in die Küche vom Bauern. Meine kleine Tochter an der Hand und dann in die Großküche. Und wenn die Bäuerin dann die große Speckseite auf dem Tisch hatte, dann sagte meine Tochter: "Mammi, mach du Peck?" Da habe ich immer gedacht: "Mein Gott, sie gibt nicht einmal ein kleines Stück, auch für das Kind nicht." Da hab' ich mir gesagt: "Ich will lieber im Kuhstall Wasser holen und im Kuhstall aufs Klo gehhen, als dass ich dem Kind zumute, dass es sieht, da ist eine Fülle, und es kriegt davon nichts."

Die Bauern haben ja auch nichts getauscht. Die hatten alles. Die haben höchstens noch dafür gesorgt und aufgepasst, daß wir nicht bei den Polinnen oder bei den Franzosen dann ein bißchen eintauschen konnten. Die haben den Hund nachts losgelassen. Aber irgendwie haben wir doch gelebt.Ich bin dann irgendwie draufgekommen und habe mir ein Stückchen von einem Land als Acker umgegraben, ein unbenutztes Stück Land neben dem Schweinestall, das durfte ich mir dann umgraben. Und hab' dann selbst, ich als Großstadtkind, natürlich keine Ahnung von Landwirtschaft, Pflanzen besorgt. Ich bin sechs Kilometer weit ins nächste Dorf und zur nächsten Einkaufsstelle. Der Bauer hat uns ja nichts gegeben.

Und dann hab' ich selbst angebaut. Ist auch was gewachsen, glaub' ich. Oder ich bin nachts mal über die Zäune geklettert auf die Bullenwiese und hab' dann aus den Kuhfladen, die da lagen, mir die Äpfel geholt, die vom Baum da reingefallen waren. So was haben die Bauern ja nicht gegessen. Da hab' ich Suppe von gekocht. Einmal hat die Bäuerin – das war eigentlich keine richtige Bäuerin, die war aus Hamburg und denen hatte der Vater den Hof gekauft – da hat also die Bäuerin eine Dose Fleisch auf den Mist geschmissen. Die war wohl nicht mehr ganz in Ordnung. Und die Katze hat den Kopf in die Dose gesteckt und kam nicht wieder raus. Da habe ich gedacht: "Das arme Tier! Was hat das?" Wie ich die Katze nun von dieser Dose befreit habe, war da noch ein wunderschönes Stückchen Fleisch in der Dose. Da habe ich dann Wurzeln zu gekocht und habe alle meine Bekannten eingeladen, und wir haben herrlich Wurzelgemüse mit Fleisch gegessen. Das war ein Festessen!

Schwierig war es mit der Milch. Des Kindes wegen. Man mußte schon schauen, daß man was bekam. Die Zuteilung hat ja nicht gereicht. Übrigens haben die Bauern uns auch keine Milch freiwillig gegeben. Die haben die Buttermilch zum Schürzenstärken gebraucht. Und wie ich mal darum bat, wenigstens ein bißchen Buttermilch zu bekommen, da hat der Bauer gemeint: "Erst müssen die Schweine versorgt werden und dann, was überbleibt, das können Sie kriegen!" Ist natürlich nichts übriggeblieben!

Ja, da ist schon mal Hass hochgestiegen in einem, aber hinterher hab' ich gedacht, er weiß es nicht besser. Und wenn man so lebt, das bleibt nicht unbestraft. Ich weiß noch, wie er Angst gekriegt hat, als die Auflösung dann kam, um seinen Hof. Angst vor den Zwangsarbeitern. Da hat er sich nicht mehr aus dem Haus getraut. Nur noch mit seinem Gewehr hinterm Fenster gehockt und die Lager beobachtet. Dann hat er die Schweine abgeben müssen und die Hühner abgeben müssen, das ganze Vieh. Und da hab' ich ein Huhn immer so angelockt und hab' das Huhn mitgenommen. Jetzt wußte ich das ja nicht tot zu machen. Ich konnte ja kein Huhn und kein Tier schlachten. Dann habe ich das Huhn im Rucksack, den Kopf oben raus per Bahn nach Gelsenkirchen gebracht. Und wie wir aufmachten, da war in dem Rucksack schon ein Ei. Das war für mich wie ein Zeichen, daß der Krieg bald zu Ende sein würde".


Andreas Jordan, Mai 2009

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